LONDONER TODESSCHÜSSE: EINE TRADITION VON POLIZEI-TRICKSEREIEN
: Das Opfer soll selbst schuld sein

Die Taktik ist nicht neu: Wenn die britische Polizei jemanden ums Leben bringt, wird danach auch noch dessen Ruf durch gezielte Fehlinformationen ruiniert. Irgendetwas wird schon hängen bleiben. So hat es die britische Polizei in vielen der mehr als tausend Todesfälle durch Polizeiaktionen in den vergangenen 30 Jahren gehandhabt, und so war es auch im Fall von Jean Charles de Menezes. Der Brasilianer habe bei hochsommerlichen Temperaturen eine Winterjacke getragen, sei über die U-Bahn-Absperrung gelaufen und habe Warnrufe ignoriert. Und die Polizei legte nach: De Menezes’ Visum war abgelaufen, deshalb sei er wohl weggelaufen. Sein Tod sei zwar tragisch, aber irgendwie war er selbst daran schuld: In der nach den Anschlägen angespannten Situation in London benimmt man sich nicht so verdächtig.

Doch es gibt keinen Grund, Erklärungen der Polizei als Beschreibungen eines Sachverhalts zu akzeptieren. Die Polizisten sind als Beteiligte parteiisch, und wie alle Beteiligten stellen sie die Ereignisse und Umstände der Tat auf eine für sie möglichst günstige Weise dar. Bei einem Angeklagten vor Gericht ist das legitim. Wenn aber die Polizei einschließlich ihres höchsten Chefs vertuscht, lügt und die Untersuchung behindert, ist es das nicht.

Deshalb ist es korrekt, dass Medien und Öffentlichkeit Druck ausüben, damit der unabhängige Untersuchungsbericht über den Tod des Brasilianers tatsächlich unabhängig ist sowie zügig und ungekürzt veröffentlicht wird. Eine Garantie für die Aufklärung des Falles ist das freilich nicht. Auch der Richter, der den Tod des Wissenschaftlers David Kelly – er hatte die Regierung der Fälschung des Irakberichts beschuldigt und sich umgebracht, nachdem er bloßgestellt worden war – untersuchte, belastete die Regierung zwar, sprach sie am Ende aber von jeglicher Schuld frei.

Einfach wird die Ehrenrettung aber nicht. Video-Aufnahmen belegen deutlich die Diskrepanz zwischen der Polizeiversion und de Menezes’ tatsächlichem Verhalten. Einfach wird die Ehrenrettung der Polizei also nicht. Zu befürchten ist der Versuch trotzdem. RALF SOTSCHECK