Schon auf den Geschmack gekommen?

GENUSS Vier von fünf Menschen in Deutschland essen regelmäßig Lebensmittel, die ihnen nicht schmecken, weil sie andere Gründe dafür haben

■ Die Geschmackssinne lassen sich mit frischem Obst sehr preiswert trainieren: mit Äpfeln, Birnen oder Sauerkirschen vom Wegesrand. Auf der Internetplattform www.mundraub.org sind die Orte aufgelistet, an denen Obstbäume darauf warten, kostenlos abgeerntet zu werden. Alleine für die Region Berlin-Brandenburg sind 800 Fundstellen verzeichnet. Gerade ist das „Mundräuber Handbuch“ erschienen, das unter anderem Rezepte und rechtliche Hinweise zum „Mundraub“ enthält. „Herrenloses Obst verrottet oft im Straßengraben, während wir Obst aus Übersee kaufen“, sagt Kai Gildhorn, der die Plattform vor rund drei Jahren mit Freunden ins Leben gerufen hat. „Vor unserer Haustür wachsen essbare Schätze, die viel zu schade sind, um zu vergammeln.“ (ve)

■ Das „Mundräuber Handbuch“ gibt es über die Internetplattform für 16,95 Euro. Aus den Erlösen wird der weitere Betrieb der Internetseite finanziert, die täglich rund 2.000 Menschen nutzen.

VON VOLKER ENGELS

Geschmack ist eine „zentrale Alltagskompetenz, die man entwickeln kann“, sagt Ursula Hudson von Slowfood Deutschland. Um seinen Geschmackssinn auszubilden, komme es nicht darauf an, in den Höhen der Sterneküche zu forschen: „Ein einfaches gutes Brot mit frischer Butter kann ein großartiges Geschmackserlebnis sein.“ Ob etwas munde, liege nicht immer alleine an den Zutaten: „Essen und Schmecken ist ein soziales Gesamtgefüge.“

Geschmackskompetenz lässt sich erlernen, weiß Daniel Mouratidis von der Sarah-Wiener-Stiftung, die die Geschmackskompetenz von Kindern und Jugendlichen mit ihren Angeboten fördern will. „Kinder müssen oft wieder lernen, wie Gemüse oder Obstsorten im Originalzustand schmecken.“ Dieser „unverfälschte Geschmack“ gehe nämlich verloren, wenn sich der Gaumen erst mal daran gewöhnt habe, dass zum Beispiel Erdbeeren so schmecken, wie man es aus dem Erdbeerjoghurt kennt, der oft voll mit künstlichen Aromastoffen ist. „Kinder sollen schmecken, was der Unterschied zwischen einem natürlichen Geschmack und einem künstlichen aus dem Labor ist.“

Für den Referenten Daniel Mouratidis ist das Kochen die „erste kulturelle Errungenschaft des Menschen“, die auch Kindern und Jugendlichen spielerisch nahe gebracht werden könne: „Wenn Kinder gemeinsam Kartoffeln ernten, sie waschen, kochen und anrichten, sind sie oft sehr stolz auf das Ergebnis.“ Und sie lernen dabei, dass Kartoffeln nicht nur als frittierte Pommes, sondern auch im gekochten Zustand mit Quark und frischen Kräutern sehr gut schmecken. Es geht dabei nicht darum, bestimmte Gerichte grundsätzlich zu verteufeln: „Kinder lernen schnell, dass man leckere Pizza oder Burger auch selbst mit frischen Produkten aus der Region herstellen kann, dass auch frische Salate und Kräuter gut schmecken.“

Im vergangenen Jahr hatte die Dr.-Rainer-Wild-Stiftung, die sich die gesunde Ernährung auf die Fahnen geschrieben hat, die Ergebnisse einer repräsentativen Studie veröffentlicht. Demnach gaben acht von zehn Befragten an, dass sie Lebensmittel essen, die nicht ihrem persönlichen Geschmack entsprechen. 38 Prozent dieser Esser gestanden dabei ein, dass sie die Speise generell nicht mochten. Fast zwei Drittel der befragten Deutschen isst auch dann weiter, wenn es ihnen nicht schmeckt. „Guter Geschmack einer Speise ist für viele Menschen offensichtlich nicht alleine ausschlaggebend“, sagt Lisa Hahn, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung. Verständliche Motive könnten zum Beispiel die Scheu sein, den Gastgeber vor den Kopf zu stoßen, „weil sich Großmutter doch so viel Mühe mit dem Braten gemacht hat“. Oft spielen auch ökonomische Gründe eine Rolle sowie die alte Regel: Man wirft keine Lebensmittel weg.

Dabei scheint es eine offenkundige Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Konsumenten zu geben: „Menschen geben bei Befragungen immer wieder an, dass ihnen der Geschmack von Lebensmitteln wichtig ist, bei Blindverkostungen greifen sie aber regelmäßig zu Produkten, die sie an sich nicht bevorzugen.“ Die genauen Ursachen für diesen Widerspruch will die Stiftung in weiteren Studien klären, einige Vermutungen nennt die Ernährungswissenschaftlerin allerdings schon heute: „Die Prägung beginnt schon sehr früh – teilweise im Mutterleib, wo sich die ersten Geschmacksknospen ausbilden. Kinder, die zum Beispiel mit aromatisierter künstlicher Flaschennahrung gefüttert würden, bevorzugten zum Beispiel später häufig Ketschup, der ähnliche künstliche Aromastoffe enthalte.

„Die Grundlagen für den Geschmack werden früh erlernt“, sagt auch Ursula Hudson von Slowfood. Und das in beide Richtungen: Wer zum Beispiel mit frischer Kuhmilch groß geworden sei, werde möglicherweise „ausspucken“, wenn er haltbare Milch trinke.

Aber auch die grüne Brause aus Kindertagen kann heute noch eine geschmackliche Verheißung sein. „Obwohl jeder weiß, was da an Zucker und künstlichen Aromen drinsteckt“, so Daniel Mouratidis. Die Erinnerung wirkt nach. „Was man als Kind isst, prägt sich ein.“

Ist der Geschmackssinn gut trainiert, lässt sich einiges an Geld sparen. Denn wer seiner Nase und dem Gaumen mehr traut als dem aufgedruckten Mindesthaltbarkeitsdatum, wirft sein Essen nicht voreilig weg.