Das familiäre Gesicht des polnischen Turnens

Marta Pihan-Kulesza und Roman Kulesza sorgen bei der Europameisterschaft in Szczecin dafür, dass Turnen nicht mehr als Teenagersport gilt

Ihre Tochter schaut zu, wenn Marta Pihan Kulesza um Medaillen kämpft Foto: imago

Aus Szczecin Sandra Schmidt

Wenn im Sport von der Familie die Rede ist, verheißt das meist nichts Gutes. Sportfunktionäre beschwören dann in Sonntagsreden, allen Forderungen nach demokratischen Strukturen und Transparenz zum Trotz, die Werte ihrer geschlossenen Gemeinschaft. Echte Familien hingegen kommen im Hochleistungssport eigentlich nicht vor – wo auch? Marta Pihan-Kulesza, Roman Kulesza und Jagna sind da eine fröhliche Ausnahme.

Roman war spät dran am Tag der Frauen-Qualifikation bei der Turn-EM in Szczecin: Kurz vor knapp eilt er mit dem Buggy zielstrebig an all den Grüßenden vorbei in die Halle. Auf keinen Fall sollte Tochter Jagna den Auftritt von Mama verpassen. Und die war nervöser als sie erwartet hatte. „Am Barren habe ich noch nicht genug trainiert seit der Geburt, aber am Balken, das war einfach der Stress, vor meiner Familie und allen Freunden zu turnen“, kommentierte Marta Pihan-Kulesza ihre vier Stürze.

An mangelnder Erfahrung kann es nicht liegen: Marta wird im Sommer 32 Jahre alt, hat 2008 und 2012 bei den Olympischen Spielen geturnt und auf etlichen Weltcup-Podien gestanden. Aber eben nie zu Hause, in der Stadt, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hat. „Insgesamt bin ich glücklich, ich mache das nur noch für mich“, resümierte sie ihren Auftritt. Mit ihrer Bodenübung hatte sie – zur Musik von „Pink Panther“ und mit einem hohen Doppelsalto vorwärts – das Finale nur um einen Zehntelpunkt verpasst. „Ich liebe meine Übung, ich liebe Pink Panther.“

Am Tag zuvor war Roman Kulesza, mit dem Marta seit zehn Jahren verheiratet ist, an die Geräte gegangen: „Es war eine Ehre für mich, aber es ist nicht leicht, mit den jungen Leuten zu konkurrieren.“ Auf die Frage, wie alt er denn sei, lächelt der Mann: „Ich bin jetzt 18 Jahre, plus 18 Jahre Erfahrung – also 36.“ Er lieferte an Barren und Reck das beste polnische Ergebnis.

Roman hatte schon vor vier Jahren mit dem Turnen aufgehört. Für ihn war es die diese EM in der Heimat, die ihn wieder an die Geräte gebracht hat. „Ich hatte das Gefühl, es ist zwingend erforderlich, dass ich hier auf der Matte stehe“, sagt er.

Auch Marta hatte schon aufgehört, und zwar 2016, nachdem ihr wegen einer Verletzung der Weg zu den angestrebten dritten Olympischen Spielen verwehrt geblieben war. 2017 wurde Tochter Jagna geboren. Marta wollte sich dann wieder in Form bringen, fand aber schlicht nichts, was ihr gefiel. Also kehrte sie an die Geräte zurück und gewann gleich 2018 erneut die polnische Meisterschaft.

Roman hatte in der Zwischenzeit in Szczecin eine eigene Turnhalle eröffnet, in der auch Kleinkinder ab vier Monaten betreut werden. Ideal für Tochter Jagna, denn die Kuleszas haben in Szczecin keine Großeltern, die sich um die Betreuung kümmern können. Seit beide wieder trainieren, verbringt Jagna viel Zeit in der Turnhalle. „Sie liebt es,“ sagt Marta, und für sie selbst sei es eine reine Freude, die Zeit turnend und mit ihrer Tochter zu verbringen. Jagna rolle schon vorwärts und rückwärts, berichtet Roman. Einig sind beide darin, dass ihr Nachwuchs keineswegs Turnerin werden müsse.

Marta mit ihren 32 Jahren erhielt eine als „Shooting Star Award“ geltende Auszeichnung

1969 fand in Polen die letzte große internationale Veranstaltung statt, damals die EM der Männer in Warschau. Neben Leszek Blanik, der 2008 Olympiasieger am Sprung wurde, haben vor allem die Kuleszas das polnische Turnen seit der Jahrhundertwende geprägt, besonders Marta, deren ausdrucksstarke und originelle Bodenübungen immer Beachtung fanden, auch wenn sie nie eine Medaille gewonnen hat. Gabriele Janik, die zweite polnische Starterin in Szczecin, selbst schon 26 Jahre alt, sagt über Marta: „Sie war immer mein Idol. Als ich ein Kind war, wollte ich unbedingt wie Marta sein, mehr: Ich wollte Marta sein!“ Die Europäische Turnunion hat sich für Marta als das Gesicht dieser EM entschieden, am Samstag bekam sie den „Ehrenpreis für Athleten mit einer außergewöhnlichen Geschichte, die Inspiration für zukünftige Generationen sind“.

Dass eine fast 32-Jährige die kurio­ser­weise „Shooting Star Award“ genannte Auszeichnung erhält, dass die Zeiten der ganz kleinen Mädchen im Frauenturnen vorbei sind. Sogar an der Spitze: Europameisterin Mélanie de Jesus dos Santos aus Frankreich ist 19, Silbermedaillengewinnerin ­Ellie Downie fast 20 Jahre alt.

Roman und Marta haben beide gute Chancen, sich im Herbst bei der WM in Stuttgart für die Olympischen Spiele in Tokio zu qualifizieren. „Aber“, lacht Roman, „das war gar nicht der Plan, wir wollten nur einmal mit Jagna ­reisen.“