„Fünfzig Jahre sind schnell vergangen“

GESCHICHTE Einheitsgehälter, Diskussionskultur – vor einem halben Jahrhundert gründete Jürgen Schitthelm die Berliner Schaubühne, die dann weltberühmt wurde. Nun geht er. Ein Gespräch

■ geboren 1939 in Berlin, ging in Ostberlin zur Schule. An der FU in Westberlin studierte er Theaterwissenschaft. 1962 gründete er mit einer Studentengruppe die Schaubühne und gehörte von Anfang an zur Leitung. Zum 50. Jubiläum, das am 21. September gefeiert wird, hört er als Direktor auf.

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

sonntaz: Herr Schitthelm, die Schaubühne ist heute ein weltberühmtes Theater. Vor fünfzig Jahren, 1962, haben Sie es zusammen mit anderen jungen Leuten gegründet. Da waren Sie 23 Jahre alt. Was war das damals für eine Gruppe?

Jürgen Schitthelm: Wir hatten uns an der Freien Universität kennen gelernt, dort haben wir von 1958 bis 1961 Studententheater gemacht. Der harte Kern bestand aus sechs, sieben Leuten. Dieter Sturm war dabei, der zu einem der wichtigsten und herausragenden Dramaturgen des deutschen Theaters wurde. Das deutete sich damals schon an.

Hat die junge Schaubühne bald kulturpolitischen Rückhalt in Westberlin gefunden?

Ja. Die Gründung geschah ein Jahr nach dem Bau der Mauer. In der Stadt gab es, wozu der Berliner sonst nicht neigt, eine gewisse Depression. Die Generation derjenigen, die Karriere machen wollten, hatte sich großteils aus der Stadt entfernt – hier saßen keine Konzerne, man wusste nicht, wie es weiterging. Initiativen von jungen Leute, das kannte man deshalb nicht Anfang der sechziger Jahre in Berlin.

War Ihnen damals schon bewusst, dass der schnelle Erfolg der Schaubühne auch auf der Situation von Westberlin im Schatten der Mauer beruhte?

Nein. Aus Westberliner Sicht lag unser Theater, am Halleschen Ufer, an der Stadtgrenze. Kreuzberg wurde erst Jahre später zu einem Künstlerviertel. Damals lebte dort ausschließlich Kleinbürgertum. Die Gegend war durch die Kriegszerstörung noch weitgehend eine Brache. Der Ort war uns recht. Für uns war der Spielplan wichtig, wir wollten Horváth und Marieluise Fleißer spielen, die großen Autoren der Zeit vor 1933, die waren schlichtweg vergessen. Auch die jungen Realisten aus England und Frankreich kamen in den deutschen Theatern nicht vor. Wir glaubten, mit unserem Spielplan ein theaterfernes Publikum, wie es die Kreuzberger damals waren, an das Theater heranführen zu können. Weil sich diese Stücke ganz wesentlich mit den sozialen Bedingungen der Gegenwart auseinandersetzen.

Und es funktionierte?

Diese Hoffnung hat sich schnell erledigt. Wir merkten schon in der zweiten Spielzeit: Unser Publikum, das sind jüngere Leute, aber alle aus den bürgerlichen Bezirken. Wir selber kamen auch alle aus dem Bürgertum.

Die Geschichte der Schaubühne war auch die der Suche nach einer politischen Haltung und Identität für die Nachkriegsgeneration. Wer waren dafür die wichtigen Autoren?

Der wichtigste zeitgenössische Autor war für uns Botho Strauß. Er war Kritiker bei Theater heute und fiel uns auf durch seine Art, über Theater zu schreiben. Er wurde Dramaturg. Aber nachdem er 1970 zu uns gestoßen war, zog er sich schon bald zurück, um Stücke zu schreiben, die haben wir im Wesentlichen uraufgeführt. Das war ein Glücksfall für das Theater – zum einen deswegen, weil er in Kenntnis des Ensembles Rollen für die Schauspieler des Hauses geschrieben hat und zum anderen, weil er einer der wenigen Autoren war, der den Regisseur hat machen lassen. Bei seinen eigenen Stücken war er nie Dramaturg, nie in den Proben, frühestens in der Premiere.

Die Schaubühne von damals war berühmt für ihr Modell Mitbestimmung. Wenn man an die Künstler von damals denkt – die Regisseure Peter Stein, Michael Grüber oder die Schauspielerin Edith Clever –, die haben sich ja zu einsamen Giganten entwickelt. Da ist jeder eine Insel für sich im Meer der Kunst, schwer vorstellbar als Teil eines Kollektivs. Und genau dieses Kollektive macht auch den Mythos der Schaubühne aus. Wie hat das funktioniert?

„Die Stücke sollten sich mit den Bedingungen der Gegenwart auseinandersetzen“

JÜRGEN SCHITTHELM

Den Begriff Kollektiv haben wir nie benutzt. Die Verabredung mit der Stadt Berlin war von 1970 an, für zwei Spielzeiten ein Ensemble zusammenzuführen, mit dem Versuch einer weitgehenden künstlerischen Mitbestimmung. Das hatte überhaupt nur eine Chance mit einem sehr jungen Ensemble. Es musste die Bereitschaft bei allen vorhanden sein, unendlich viel außerhalb von Proben zu arbeiten. Einen Spielplan aufzustellen mit fünf Stücken, das bedeutet ein Lesepensum von 25 bis 30 Stücken – und bei älteren Stücken ging es auch darum, sich den ganzen historischen Kontext anzueignen. Dann gab es umfangreiche Spielplandiskussionen, bis sich die ersten Entscheidungen herauskristallisierten. Und wir holten Leute dazu für vielseitige Schulungen, unter anderem in den Grundlagen des Marxismus.

Der Anfang mit Einheitsgehältern, die Diskussionskultur, der inhaltliche Anspruch – das sind Bestandteile, die die Schaubühne als Teil der 68er-Kultur sehen lässt. Im letzten Jahrzehnt hat sich der Blick auf diese Zeit oft geändert, aus der Anerkennung des kritischen Geistes der 68er wurde ein pauschales Bashing einer Generation. Hat Sie das getroffen?

Nein. Für uns kam schon viel früher ein Bruch mit Teilen des Publikums und der öffentlichen Meinung. Das passierte, als die Entscheidung fiel, dass dieses Haus hier am Lehniner Platz für uns umgebaut wird. Das Haus am Halleschen Ufer brach unter uns förmlich zusammen. Wir dachten an einen Neubau, gerne am Anhalter Bahnhof. Das war nicht möglich. Aber auch mit dem Standort Charlottenburg hatten wir kein Problem. Aber ein Teil derer, die sich als unsere politischen Freunde gesehen haben, und auch ein Teil der veröffentlichten Meinung sagte, jetzt ziehen die an den Ku’damm, damit wird sich das Theater wohl total verändern.

In den Neunzigern hatte die Schaubühne eine schwere Zeit, sie sah plötzlich nach einem Westberliner Relikt aus. Was sich im Osten, an der Volksbühne tat, hatte mehr Sex, Pop und Politik.

Richtig. Ich erinnere die Nacht des Mauerfalls sehr gut. Wir saßen in der Nacht im Restaurant zusammen, und dachten alle: Endlich kommt es wieder zu einer künstlerischen Konkurrenz mit den Ostberliner Bühnen. In der Zeit, als Peter Stein die künstlerische Leitung hatte, bis Ende der achtziger Jahre, waren wir die Nummer eins am Platz, das Schillertheater war aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit gerutscht. Die Heilserwartungen an das Theater lagen nur noch auf den Premieren der Schaubühne, da ist man alles andere als amüsiert. Was früher vorhanden war, die Konkurrenz zum Schillertheater, durch die Freie Volksbühne, das fehlte.

Seit zwölf Jahren ist Thomas Ostermeier der künstlerische Leiter. Die letzten Jahre prägt die Schaubühne ein Nebeneinander sehr unterschiedlicher Handschriften, viele Regisseure arbeiten mit Musikern, einige mit Choreografen.

Wir machen so an zwölf Produktionen im Jahr, klar gelingt nicht alles – und auch nicht alles, was gelingt, bleibt automatisch lange im Spielplan. Wenn man heute ein zeitgenössisches Stück spielt, und hat eine herausragende Presse, und einen Klassiker, der ebenso gut ankommt, dann ist trotzdem klar, die Aufführungszahlen des Klassikers werden deutlich über dem des zeitgenössischen Stücks liegen.

Dann ist Sarah Kane aber eine Ausnahme.

■ Die Anfänge: 1962 eröffnete die Schaubühne in den Räumen der Arbeiterwohlfahrt in Kreuzberg am Halleschen Ufer. Die Leitung war jung, Studenten der FU, unter ihnen Jürgen Schitthelm. Sie engagierten professionelle Regisseure und Schauspieler, um ihren Spielplan umzusetzen.

■ Die Weltgeltung: In den siebziger Jahren begann die Ära des Regisseurs Peter Stein und eines Ensembles, das mit Jutta Lampe, Edith Clever, Ilse Ritter, Bruno Ganz und Otto Sander bald in die ganze Bundesrepublik ausstrahlte. Als Regisseure arbeiteten Klaus-Michael Grüber, Luc Bondy, Claus Peymann, Robert Wilson und Andrea Breth. Berühmt wurden Steins Tschechow-Inszenierungen, der „Drei Schwestern“ und der „Sommergäste“. Botho Strauß schrieb für die Schaubühne seine ersten Stücke.

■ Der Umzug: 1980 zog die Schaubühne an den oberen Ku’damm um, in ein ehemaliges Kino, von Erich Mendelssohn gebaut. Die elegante Architektur beherbergt variable Bühnenräume, teils laufen zwei Vorstellungen parallel, die Zahl der Premieren in jeder Spielzeit erhöhte sich.

■ Die Gegenwart: Seit 13 Jahren ist Thomas Ostermeier der künstlerische Leiter der Schaubühne.

Ja, das ist ein Phänomen. Wir haben alle ihre Stücke produziert. „Zerbombt“ mussten wir absetzen durch den frühen Tod von Ulrich Mühe. „Gier“ spielen wir seit 13 Jahren. Als der Bruder von Sarah Kane in Berlin war, sagte er, er komme aus dem Staunen nicht heraus. Alle ihre Stücke sind allein in Berlin so viel mehr gespielt worden als jemals in Großbritannien.

Was der Schaubühne in der Gegenwart vorgeworfen wird, sind die vielen Engagements von Ostermeier in Moskau, Athen oder Avignon. Führt das nicht zu Konflikten?

Der Vorwurf ist falsch. Thomas Ostermeier ist seit 13 Jahren hier, hat seitdem 27 Inszenierungen gemacht, davon sind sieben Koproduktionen. Ostermeier zeichnet sich dadurch aus, dass er von Anfang an versucht hat, anderen Regisseuren hier Arbeitsmöglichkeiten zu geben. Nicht nur jungen Leuten, auch Falk Richter, Luk Perceval, Alvis Hermanis arbeiten hier. Ostermeier will nicht den Spielplan dominieren, das ist im Sinne des Ensembles. Der Vorwurf, er inszeniere zu viel außerhalb, ist leichtfertig.

Schaffen Sie es wirklich, aufzuhören?

Ja. Ich bleibe ja Gesellschafter, da trage ich noch Mitverantwortung. Aber ich gehe nach fünfzig Jahren aus der Leitung, sie sind schnell vergangen. Wenn man so lange dabei ist, dann ist das notwendig. Ich habe bei zwei Freunden erlebt, dass es ihren mittelständische Unternehmen gar nicht bekommen ist, zu lange weiterzumachen. Wenn ich um Rat gefragt werde, bin ich sofort da, aber ich bin nicht derjenige, der hier ums Haus schleicht.