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Aggressiv harmlos

Keine Freude, keine ulkige Punkerklamotte, aber trotzdem lesenswert: Karl Nagel, bekannt geworden als Initiator der Chaostage in Hannover, hat ein autobiografisches Buch geschrieben. Daraus liest er – bei den Perry-Rhodan-Tagen in Osnabrück. Der Sci-Fi-Heftromanheld war der Held seiner Kindheit

Von Jan-Paul Koopmann

Karl Nagels Selbstmitleid nervt genau so lange, bis klar wird, dass in echt alles noch viel schlimmer ist. Es fängt schon bei diesem Buch selbst an, das ewig nicht fertig wurde: „Schlund“ ist so etwas wie die Autobiografie des wohl berühmtesten Internetpunks, der als Initiator der Chaostage gilt und in diversen Bands musiziert hat, die in der Szene jeder kennt. Und in dem Buch steht auch drin, wie sehr sich Nagel damit gequält hat, wie er seine Schreibzeit auf Facebook verdödelt und wie unangenehm die Telefonate mit seiner Mutter werden, weil es einfach nicht fertig wurde.

„Schlund“ ist keine Heldengeschichte, sondern ein Offenbarungseid – und das obwohl Nagel sich diverse künstlerische Freiheiten bei der Nacherzählung seines Lebens gönnt. Da gibt es seitenlange Traumbeschreibungen, Gewaltfantasien und am Ende geht auch noch die Welt unter. Nagels echte Großentaten wie die Kanzlerkandidatur für die APPD oder eben die Chaostage in Hannover kommen hingegen fast nicht vor.

Interessant ist die Selbstdemontage vor allem, weil es viele dieser Nagels gibt, und weil die szenelinke Geschichtsschreibung sich über diese Menschen sonst beharrlich ausschweigt. Nagels Politkarriere: 1981 zieht er in voller Kampfmontur nach Brokdorf, dreht aber wieder ab, weil er lange vorm AKW Blasen an den Füßen bekommt. Ganz kurz wird er Hausbesetzer in Berlin, zu seinem Erweckungserlebnis aber werden die sinnbefreiten Plünderungen am Ku’damm – am Rande einer autonomen Demo, als das mutmaßliche RAF-Mitglied Sigurd Debus in Folge von Hungerstreik und Zwangsernährung stirbt.

Nagel ist nie wirklich reingekommen in die Szene, hat offenbar immer schon alles besser gewusst und sich so schnell es irgend ging ins Abseits manövriert. Als Autobiograf sitzt er nun in seiner Hamburger Wohnung, oben drüber seine Ex-Freundin und das gemeinsame Kind. Im Programmierer-Job bekommt er nichts auf die Reihe – nicht mal mit seinen grauenhaften Gewaltfantasien scheint es ihm ernst zu sein. Irgendwie ist er links, vor allem aber radikaler Individualist, Nerd – und dabei auf eine sonderbar aggressive Weise harmlos.

Selbstgerechtigkeit ist letztlich das Thema des Buchs und dazu ist es auch außerordentlich ergiebig. „Schlund“ ist vielleicht das treffendste Psychogramm dieser Kommentarspaltenamok­läufer, die sich zwischen Spiegel online und taz in Rage klicken und sich an der Schlechtigkeit der Welt berauschen. Auch in seinem Buch gibt es Bilder von kriegstoten Kindern und ein Enthauptungsfoto des „Islamischen Staats“.

Politisch ist Nagel maximal unzuverlässig, als Mensch wahrscheinlich auch – sein Buch klärt immerhin, warum das so ist. Im finstersten Teil ist vom alten Nagel die Rede, der als Kind die Augsburger Puppenkiste liebt, etwas später dann auf Perry Rhodan umsteigt. Seinem Vater, dem Alkoholiker, presst Nagel das Geld für die erste Alice-Cooper-Platte ab. Kurz darauf stirbt sein Vater an der Sauferei. Der Bilderbuch-Punk Nagel trinkt bis heute keinen Alkohol, weil ihm der Ekel darüber noch zu präsent ist, wie er mit spitzen Fingern die leeren Bierflaschen seines Vaters in eine Plastiktüte friemelt, um ihm das Pfand und neue Kippen zu holen.

Dieses Buch ist keine Freude, keine hohe Literatur, aber auch keine ulkige Punkerklamotte. Es ist eben so ein Nagel-Ding, das wohl selbst nicht so ganz genau weiß, was es eigentlich will. Lesenswert ist es trotzdem – auch wegen der ganzen anderen Menschen da draußen, denen es auch nicht besser geht.

Karl Nagel: Schlund. Hirnkost-Verlag, 376 S., 25 Euro

Lesung (der Perry-Rhodan-Passagen aus dem Buch) bei den Perry-Rhodan-Tagen in Osnabrück: Sa, 25. 5., 14 Uhr, Haus der Jugend

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