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In seiner groß angelegten „Geschichte der Gouvernementalität“ hat Michel Foucault moderne Herrschaft neu beschrieben

VON ULRICH BRIELER

Michel Foucault hasste Kollektivsingulare. Der Staat, der Kapitalismus, die Macht, der Mensch – diese Allgemeinbegriffe verdunkelten für ihn mehr als sie erhellten. Er wollte daher über diese Begriffe historisch aufklären und erklären, warum sie so selbstverständlich gebraucht werden. Dabei beherzigte Foucault, dass der Staat eine Erfindung ist (Thomas Hobbes), der Kapitalismus eine Geschichte hat (Karl Marx) und die humanen Gestalten Masken tragen (Friedrich Nietzsche).

Dennoch warfen ihm Kritiker, wie zuletzt Giorgio Agamben, stets vor, dass seine Machtanalytik die moderne Staatlichkeit nicht zureichend beschreibe. Zu Unrecht. Das belegen Foucaults nun veröffentlichte Vorlesungen aus den Jahren 1978 und 1979, in denen er an einer neuen, einer anderen Geschichte des Staates schreibt. Die Geburt des neuzeitlichen Staates und die Formierung der Menschen zu modernen Subjekten sind hier zwei Seiten einer Medaille.

Wo Menschen zusammenleben, ist „Führung“ unvermeidlich. Diese banale Tatsache ist die Grundlage des modernen Regierungsdenkens. Vormoderne Herrschaft hatte dagegen noch kein Interesse am Menschen. Jenseits der Machthaber verschwand der Einzelne in der gesichtslosen Masse. Er hatte zu dienen, Tribute zu entrichten und sich zu opfern. Aber er war kein Objekt der Formung, der Fürsorge, der Erziehung. Erst in der Frühen Neuzeit, als nicht mehr die blanke Auspressung, sondern die Entwicklung der humanen Kräfte zur Bedingung der gesellschaftlichen Reproduktion wurde, entwickelte sich die Regierung der Menschen in einer neuen Weise zum zentralen Problem. Die Genealogie des modernen Staates besitzt hier ihre subjektgeschichtliche Achse.

Wenn Max Weber im Monopol der legitimen Gewaltausübung das Besondere des modernen Staates sieht, so beschreibt Foucault als sein Charakteristikum die Menschenführung. Gängigerweise dominiert die durch Weber bestimmte Perspektive der Staatsbildung. Mit Weber entstehen Institutions- und Rechtsgeschichten der modernen Staatsbildung, konzentriert auf politische Herrschaftsinstrumente von der Diplomatie bis zur Bürokratie, vom Militär bis zum Ministerpräsidenten.

Foucault wiederum will keine noch so fragmentarische Theorie und Geschichte des Staates entwickeln. Er geht als einer der ersten Historiker des Staates von der These aus, dass moderne Herrschaft mit den Subjektkräften des Menschen kalkuliert. Sie unterdrückt keine humanen Potenziale, sondern erzeugt sie, sie verschwendet keine menschlichen Energien, sondern reguliert sie, sie leugnet die Bedürfnisse nicht, sondern unterstützt ihre Artikulation. Der Staat erscheint als eine „Individualisierungs-Matrix“, als ein Gehäuse von Institutionen und Technologien, die Menschen zu Subjekten machen. Foucault leugnet damit in keiner Weise andere Funktionen des Staates. Seine Verbindung von Staat und Subjekt gilt aber einem historischen Tatbestand, der den modernen Staat von anderen Herrschaftsgebilden abhebt.

Er erfasst die historische Besonderheit dieses Staates im Begriff der „Gouvernementalität“ – zusammengesetzt aus den Worten gouverner (regieren) und mentalité (Denkweise). Foucault zielt auf eine Geschichte des abendländischen Staates, so wie er von seinen Akteuren und deren Souffleuren gedacht wurde. Es geht um das „Selbstbewusstsein des Regierens“. Die Entdeckung der Gouvernementalität verdankt sich der Frage: Sind der Staat und seine scheinbar totale Übermacht tatsächlich das zentrale Problem?

Diese Vorstellung will Foucault entzaubern, indem er den Staat in seinen Denkformen aufspürt. Heute sind viele, die in den 80er-Jahren gegen den Überwachungsstaat, die Volkszählungen und die autoritären Zumutungen des Sozialstaates rebellierten, bruchlos zu Vertretern der Biometrie, der elektronischen Fußfessel und der Hartz-Disziplin geworden. Man möchte ihnen eigentlich die Foucault-Lektüre anempfehlen. Denn sie wäre hilfreich, um zu erkennen, wie sich Regierungstechniken ändern, unabhängig vom politischen Personal, das sie exekutiert.

Am Anfang steht das Regieren der Menschen, erst dann kommt der Staat. Alles beginnt im Zeitalter der Reformation. Foucault setzt hier einen überraschenden Schnitt an. Der religiöse Subjektivitätsschub korrespondiert mit dem Auftauchen neuer Techniken der Menschenführung und einem Wechsel von der Kirche zum Staat. Erstmals in der abendländischen Geschichte wird die „Regierung“ von Menschen als eine zentrale Aufgabe politischer Instanzen wahrgenommen.

Davon ausgehend entfaltet Foucault eine originäre Geschichte der Menschenführung. Aus der religiösen Pastoralmacht entwickeln sich seit der Frühen Neuzeit drei Verhaltensmuster von Staatlichkeit und Subjektivität: die Souveränitäts-, die Disziplinar- und die Biomacht. Diese Figuren leben in einer staatlichen Symbiose, wie ihre Träger, Ziele, Instrumente und Koalitionen.

Foucault lässt nie einen Zweifel, dass die Entfaltung dieser modernen Machttechniken untrennbar mit der Vorgeschichte des Kapitalismus verbunden ist. Akkumulation der Menschen und Akkumulation des Kapitals sind Zwillinge. Die Frage ist, welche Praktiken den „Eintritt der menschlichen Existenz in die abstrakte Welt der Ware“ garantieren. Seit diesem Augenblick ist das Leben nicht mehr eine biologische Tatsache, sondern eine Variable in einer Matrix von Nutzen und Wert.

Wie Marx begreift Foucault den singulären Komplex namens „Kapitalismus“ als eine ungeheuere Produktionsmaschine, die Humanes verschlingt wie auflädt. Und mit der Beschleunigung der industriellen Dynamik wird die Nutzbarmachung der Menschen immer dringlicher. Die Biomacht ist der politische Agent dieser Kräfteentwicklung, die tendenziell den gesamten gesellschaftlichen Raum umfasst. Denn keine Kraft darf unnütz vergeudet werden. Alles muss dem Wachstum dienen.

Die Vorlesungen zur „Geburt der Biopolitik“ entfalten so Spurenelemente einer Wissensgeschichte der Humankapitalisierung. In dieser Perspektive taucht der deutsche und vornehmlich der amerikanische Neoliberalismus auf. Dieses Regierungsdenken will eine „Verallgemeinerung der Unternehmensform innerhalb des sozialen Körpers“. Das Individuum muss zu einem Selbstverhältnis der ökonomischen Rentabilität erzogen werden. Alles, was man tut, hat Kosten und muss daher Gewinn abwerfen. Die Ehe, die Erziehung, selbst die Kriminalität werden zu Fragen richtiger oder falscher Investitionsentscheidungen. Eine Denkweise greift um sich, die das Humane als Kapitalanlage begreift, inklusive der Chance des Konkurses: Borussia Dortmund als Modell des bürgerlichen Subjekts.

Diese letzte Dimension der Biopolitik verweist auf Technologien der Menschenführung jüngsten Datums, die einhergehen mit einer neuen Phase der Produktivierung des Lebens. Weit davon entfernt, auf den Menschen verzichten zu können, hat eine neue Epoche seiner Nutzbarmachung eingesetzt.

Berechtigterweise sind die Vorlesungen der Jahre 1978 und 1979 in einem Schuber als zwei Bände einer „Geschichte der Gouvernementalität“ erschienen. Zur Vorbereitung auf die Lektüre hilfreich sind die Vorlesungen von 1976 mit dem Titel „In Verteidigung der Gesellschaft“. Foucault nimmt hier Abschied von einer rein negativen Vorstellung der staatlichen Souveränität.

Man muss dem Suhrkamp-Verlag für diese einzigartige Ausgabe danken. Die Vorlesungen am Collège de France beleuchten ein Thema des Foucault’schen Werkes, dessen politische Bedeutung immer wichtiger wird: das Verhältnis von Staatlichkeit und Subjektivität. Sie dokumentieren zudem einen experimentellen Denkstil im Moment der Arbeit: sein Zögern, Riskieren, Befragen, Umwerfen, Erneut-Anfangen. Hervorragend gelungen ist die Kommentierung durch Michel Senellart, die belegt, welch intensive Symbiose Foucaults Denken mit einer spannungsgeladenen Gegenwärtigkeit unterhalten hat.

Es trifft sich vorzüglich, dass jüngst eine Einführung in das Werk Foucaults erschienen ist, die es in seiner ganzen Breite befragt. Unter der mittlerweile selbst für Experten kaum überschaubaren Literaturfülle sticht Ulrich Johannes Schneider mit seinem „Michel Foucault“ durch die schlichte Tatsache heraus, dass er Foucault in seinen Ansprüchen ernst nimmt. Schneider kann so souverän die üblichen Werkeinteilungen als nachgängige Konstruktionen ignorieren und seiner eigenen Analyse eine Chronologie der Abbrüche, Umwege und Neuorientierungen Foucaults unterlegen. In Foucaults Werk existiert keine Finalität, wohl aber eine Kontinuität von Problemen und ein Wille zur Problematisierung, den Schneider in den intellektuellen Bezügen zu Pierre Bourdieu, Jacques Derrida und Jean-Paul Sartre, aber auch zu Marcuse, Elias oder Hans Peter Duerr auf originelle Weise ins Spiel bringt.

Mit Schneiders Studie liegt eine extrem unprätentiöse, also verständlich geschriebene Einführung vor. Jedem Einsteiger, aber auch jedem Foucault-Enthusiasten ist ein Blick in diese souveräne Werkschau dringend ans Herz zu legen.

Michel Foucault: „Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ und „Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik“. Beide Bände Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, je 38 Euro, zusammen 69,80 Euro Michel Foucault: „In Verteidigung der Gesellschaft“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 320 Seiten, 24,80 Euro Ulrich Johannes Schneider: „Michel Foucault“. Primus Verlag, Darmstadt 2004, 264 Seiten, 29,90 Euro