Volksmusik ist auch nur Kunstmusik

OPER Beim Musikfest Berlin brachte Simon Rattle in der Philharmonie George Gershwins „Porgy and Bess“ zum Swingen

Gershwins Ansicht nach sind Afroamerikaner eher dazu in der Lage, den Jazzeinflüssen gerecht zu werden

George Gershwin ist einer der erfolgreichsten Opernkomponisten überhaupt. Zumindest gibt es wenige Opern, die einen ähnlich populären Welthit wie „Summertime“ verbuchen können. Dabei verlief die Geschichte von „Porgy and Bess“, dieser „American Folk Opera“, die am Freitag in der Philharmonie unter Simon Rattle zu hören war, zunächst alles andere als geradlinig. Für lange Zeit war das Werk nicht einmal als vollwertige Oper akzeptiert, weil es Elemente aus Jazz, Musical und Spiritual verarbeitet. Ein Beispiel für historische Kurzsichtigkeit: Zur Zeit der Renaissance dienten den Messen oft volkstümliche Chansons als melodisches Arbeitsmaterial.

Aber nicht nur die Kritiker mäkelten. Zu Gershwins Lebzeiten war der Publikumszuspruch für seine Oper mäßig. Das lag am Stoff, der Geschichte aus Catfish Row, einem fiktiven, von Afroamerikanern bewohnten Viertel der Stadt Charleston in South Carolina. Die verzweifelte Liebesgeschichte zwischen dem gehbehinderten Bettler Porgy und der eigentlich mit dem gewalttätigen Trinker Crown liierten Bess hatte das weiße Publikum eher befremdet als neugierig gemacht. Die erste New Yorker Produktion wurde 1935 nach 124 Aufführungen abgesetzt.

Die Kritik reißt nicht ab

Selbst als in den Fünfzigern der Welterfolg einsetzte, reißt die Kritik nicht ab. Vielen Afroamerikanern gilt das von dem weißen Schriftsteller DuBose Heyward und seiner Frau Dorothy geschriebene Libretto als rassistisch. Unter anderem weigerte sich der Sänger Harry Belafonte in den Fünfzigern, die Rolle des Porgy für eine Filmproduktion zu spielen. Dabei schwebte Heyward in seiner Schilderung von Alltagsnöten der Bewohner von Catfish Row alles andere als eine rassistische Erzählung vor. Wenn man der Geschichte einen Vorwurf machen kann, dann ist es in erster Linie, dass sich die Momente, in denen rassistische Weiße in Erscheinung treten, auf ein Minimum beschränken.

Heute spielen derlei Erwägungen leider kaum noch eine Rolle. „Porgy and Bess“ zählt zu den meistgespielten Opern des 20. Jahrhunderts, ohne dass ihre Gattungszugehörigkeit noch in Zweifel gezogen würde. Einer ihrer großen Verehrer ist Simon Rattle, der sie schon 1988 in der Glyndeborne Festival Opera dirigierte. Aus der damaligen Besetzung konnte Rattle für seine konzertante Einspielung in der Philharmonie den britischen Bassbariton Willard White als Porgy gewinnen, er brillierte mit der Rolle schon in mehreren Produktionen zuvor.

Rattle folgte auch in den übrigen Rollen dem Willen der Familie Gershwin, das Werk ausschließlich von „Schwarzen“ aufführen zu lassen. Da diese Bedingung für konzertante Aufführungen nicht gilt, sang mit dem Cape Town Opera Voice of the Nation Chorus ein in den Frauenstimmen gemischter Chor, begleitet von den vollständig weißen Berliner Philharmonikern – den britischen Gastpianisten Wayne Marshall ausgenommen.

Gershwin selbst ging es bei der Besetzung weniger um soziale Realität als um musikalische Erwägungen. Seiner Ansicht sind Afroamerikaner besser in der Lage, den Jazzeinflüssen in seiner Musik gerecht zu werden. Davon konnte man sich beim Tenor Howard Haskin in der Rolle des clownesken Drogendealers Sporting Life, der Bess regelmäßig mit „happy dus‘“, Kokain, versorgt, überzeugen. Die Sopranistin Angel Blue betonte hingegen als Clara in ihrer Version von „Summertime“ den operntypischen Belcanto-Stil.

Mit weniger Vibrato und dadurch passender klang die Arie in der Wiederholung durch Bess, souverän ungekünstelt gesungen von der Kanadierin Measha Brueggergosman. Dass man auf ein Bühnenbild und weitgehend auf schauspielerische Aktion verzichten muss, schadet Gershwins Oper nicht.

Die dramatisch durchkomponierte Musik, von den Berliner Philharmonikern zupackend und mit dem richtigen Sinn für Swing dargeboten, kann sich zusammen mit dem Text mühelos ohne Bildzugaben behaupten. Ohnehin ist man – wenn man sich nicht mit den deutschen Übertiteln begnügen möchte – gut damit beschäftigt, dem im afroamerikanischen Gullah-Dialekt geschriebenen Libretto zu folgen. Der Nachteil der konzertanten Lösung ist, dass die Sänger hinter dem Orchester stehen und bei lauten Passagen schon mal an die Grenze ihres Stimmvolumens kommen. Der Chor schlägt sich dafür umso durchdringender, besonders in den komplexen Spirituals, die – wie die Jazzmelodien – vollständig aus Gershwins Feder stammen: Volksmusik ist am Ende auch nur Kunstmusik. TIM CASPAR BOEHME

■ Philharmonie; noch einmal heute (Montag), 19 Uhr