LESERINNENBRIEFE
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Schule konserviert Gesellschaft

■ betr.: „Lernt eure Geschichte“, taz vom 13. 9. 12

Kerstin Decker arbeitet sich leidenschaftslos an Richard David Precht ab, dem sie die Aussage übel nimmt, Schule müsse aufhören, eine Wissenseintrichterungsmaschine vergangener Zeiten zu sein, sondern solle SchülerInnen im Hier und Jetzt begeistern, indem sich Schule individuell auf die Potenziale ihrer Schützlinge hin ausrichtet. Aus ganz spezifischen Gründen lehnt Decker diese Forderung rigoros ab (Wir hatten’s früher auch nicht besser, haben zwar kaum was gelernt, aber hey, hat’s uns denn geschadet, mhm?), schlägt einen weiten Bogen über ihre letzten Berliner Theaterbesuche hin zu Herrn Nietzsche („Friedrich Nietzsche zu verstehen heißt zu verstehen, dass er eben so nicht dachte“), um in einem zwangsweise wackligen Vergleich der Aufgaben von Theater und Schule zu enden. Theater rettet unsere Vorstellungen vom Altertum, Schule konserviert Mittelmaß. Und hoffentlich auch künftig noch!

Sehr geehrte Frau Decker, auch ich finde es schön, dass es kluge Theateraufführungen gibt, und ja, unsere Gesellschaft wurzelt in früheren Gesellschaften. Nichtsdestotrotz halte ich es für eine gerade schon fahrlässige Behauptung, kaum etwas habe sich in den letzten zwei Jahrhunderten derart gewandelt wie die Schule. Noch immer wurzelt der Geist des derzeitigen Schulunterrichts an staatlichen Schulen im 19. Jahrhundert! Wogegen also richtet sich Ihre reflexhafte Ablehnung alternativer Bildungskonzepte? Hängt es damit zusammen, dass solche auch alternative Mensch-Bilder erfordern? Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse gehen eben nicht ursächlich von der Kunst aus. Schule könnte da durchaus mehr bewegen. Es sei denn, man möchte sie konservieren, auf dass Schule weiterhin Gesellschaft konserviert. MATTHIAS ZAFT, Halle

Gottgegebene Milieus

■ betr.: „Lieber erst einmal eine Lehre“, „Umstieg ins andere Milieu“, Leserinnenbrief von Rosemarie Steger, taz vom 11., 13. 9. 12

Liebe Frau Steger, nicht jede und jeder mit Abitur studiert. Und daran ist auch ganz sicher nichts Falsches. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie einfordern, dass auch nichtakademische Berufszweige dieselbe Anerkennung verdienen wie akademische, und dass wir in unserer Gesellschaft Menschen brauchen, die sich auf allen Ebenen verantwortlich und engagiert einsetzen. Befremdet hat mich aber die Grenzlinie, die Sie zwischen akademischen und nichtakademischen „Milieus“ ziehen. Mich erinnert Ihr Argumentationsstrang fatal an Diskussionen der 70er und 80er Jahre, die eine „Aufwertung“ des Hausfrau- und Mutterseins forderten. Auch damals wurde das Argument bemüht, Frauen im Berufsleben, besonders in Leitungspositionen, wären dort einer Atmosphäre ausgesetzt, die sie benachteiligt. Daher sollten sie lieber zu Hause bei ihren Kindern bleiben.

Aber, von welchem „Milieu“ sprechen wir hier eigentlich? Als Arbeiterkind war ich die Erste in meiner Familie, die überhaupt studiert hat. Für meine Kinder ist es nun schon fast eine Selbstverständlichkeit. Nach Ihren Ausführungen sollten sie das eigentlich nicht tun, denn, wenn ich nicht studiert hätte, würde für sie nun dasselbe gelten wie für mich damals. Waren es für mich „ungewohnte Kreise“, wie Sie das nennen, in denen ich mich übrigens ohne größere Probleme bewege, so sind diese „Kreise“ für meine Kinder Normalität. Und wer sagt denn, dass „Kreise“ und „Milieus“ etwas Statisches und Gottgegebenes sind? Als Teil eines internationalen Vorstandes bewege ich mich oft in „ungewohnten Kreisen“. Sollte ich da auch lieber daheim bleiben?

Was ist mit Menschen mit Migrationswurzeln? Sollen sie lieber unter sich bleiben? Und verlieren Muslime nicht den Kontakt zu Ihrer „Herkunftsfamilie“, wenn sie sich mit Christen einlassen, sie vielleicht sogar heiraten? Es wird Zeit, dass wir allen Menschen die Möglichkeit geben, nach ihren eigenen Wünschen und Fähigkeiten zu leben, unabhängig davon, ob es sich um Akademikerkinder, Arbeiterkinder, MigrantInnnen, Frauen oder Männer handelt. Denn, wer sagt denn, dass nicht auch ein Akademikerkind lieber Mechatronikerin wird als zu studieren? Erst wenn das nicht mehr als Abstieg empfunden werden würde, wäre das eine Aufwertung. Oder macht Ihnen das Angst? ROSEMARIE MUTH, Reutlingen

Horizonterweiterung

■ betr.: „Umstieg ins andere Milieu“, Leserinnenbrief vom 13. 9. 12

Ich danke Gott auf Knien, dass ich nach dem Abitur Leute getroffen habe, die mich als Arbeiterkind ermutigt haben, ein wissenschaftliches Studium aufzunehmen. Ich arbeite jetzt zwar in keinem akademischen Beruf, doch allein die persönliche Horizonterweiterung war der Mühe wert. Name ist der Redaktion bekannt