Das bröckelnde K-Pop-Patriarchat

Südkoreas Popkultur brachte dem Land einen positiven Imagewandel und wirtschaftliche Erfolge. Doch jetzt wird die Unterhaltungsindustrie von einem massiven Missbrauchsskandal erschüttert

Im Blitzlichtgewitter: Sänger Lee Seung Hyun vor der Polizeiwache in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul Foto: YNA/dpa

Aus Seoul Fabian Kretschmer

Big Bang ist die wohl erfolgreichste K-Pop-Boy-Band des letzten Jahrzehnts. Seit ihrem Debüt 2006 hat die Gruppe über 140 Millionen Platten verkauft. Und auch politisch hat ihre Musik Bedeutung: Als die beiden Koreas sich Anfang Januar 2016 verfeindet gegenüberstanden, dröhnte Südkorea auf seinen Propagandalautsprechern entlang der entmilitarisierten Zone den Nummer-eins-Hit „Bang Bang Bang“ in den Norden – als Lockruf für potenzielle Fahnenflüchtige. Nun jedoch stehen sowohl ein Bandmitglied selbst als auch die gesamte Branche wegen Missbrauchsvorwürfen in der Kritik. Auslöser ist ein Skandal um Big-Bang-Sänger Lee Seung Hyun.

Am Donnerstag erschien der 28-Jährige, der unter Fans als Seungri bekannt ist, in Nadelstreifenanzug und Krawatte vor der Seouler Polizeibehörde. Ihm wird vorgeworfen, einen Prostitutionsring betrieben zu haben. „Ich werde der Untersuchung zur Verfügung stehen und wahrheitsgemäß antworten“, sagte Seungri, ohne dabei auf die Fragen der vielen Medienvertreter einzugehen.

Polizisten haben Chat-Verläufe aus dem Jahr 2015 gesichert, die belegen sollen, dass der gefeierte Pop-Star für Geschäftspartner aus Taiwan Prostituierte organisiert hat. Im Gegenzug habe er sich Investitionen in seine Firma Yuri Holding versprochen. Prostitution ist in Südkorea illegal, allerdings trotzdem weit verbreitet. Seungri steht bereits seit Monaten aufgrund seiner Beteiligung am Seouler Nachtclub Burning Sun in der Kritik. Immer wieder haben junge Frauen in anonymen Online-Posts behauptet, dort Opfer von K.-o.-Tropfen geworden zu sein. Koreanische Medien berichten von einer „rape culture“, die von den Club-Betreibern, Türstehern und Polizeibehörden gedeckt werde.

„Die Gewalt gegen Frauen ist strukturell – und oft finden die Verbrechen im Verborgenen statt“, sagt die feministische Aktivistin Seoyun, die ihren Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte.„Sexueller Missbrauch und Belästigung werden in Südkorea oft als leichte Vergehen abgetan“, erzählt sie weiter. Die junge Südkoreanerin ist Teil einer Gruppe, die sich „Brennende Feministinnen“ nennt. Gegründet haben sie sich nach einem Mord im Jahr 2016, als eine Frau in einer öffentlichen Toilette im Seouler Nobelbezirk Gangnam niedergestochen wurde. Der Täter gab damals an, sein Opfer nicht gekannt zu haben, jedoch von einem tiefen Hass auf Frauen getrieben worden zu sein. Der Fall rückte die zuvor vom Mainstream häufig verspotteten Anliegen der feministischen Bewegung Südkoreas erstmals in den Fokus. Frauen prangerten im öffentlichen Raum systematisch das Patriarchat an, teilten ihre Leidensgeschichten und zeigten in Demonstrationen ihre Solidarität.

Auch der jüngste K-Pop-Skandal wird nicht folgenlos bleiben. In südkoreanischen Online-Medien sorgte er bereits für einen massiven Aufschrei: „Man sollte eine einstweilige Verfügung veranlassen und Seungris Einkommen an den Staat weiterleiten“, schreibt etwa ein erboster User unter einem Online-Artikel. Ein anderer meint: „Das war kein individueller Fehler. Der Skandal hat negative Auswirkungen auf unsere ganze Gesellschaft.“

Tatsächlich ist die koreanische Pop-Branche auch allerhöchste Staatsangelegenheit: Nach der Asienkrise der Neunzigerjahre, als die Finanzmärkte über Nacht zusammenbrachen, suchte das rohstoffarme Südkorea nach neuen Wirtschaftsmotoren – und entdeckte den Kulturexport für sich. Der 1998 gewählte Präsident, Kim Dae Jung, stieß infolgedessen einen Prozess an, den die Autorin Euny Hong in ihrem vielbeachteten Buch „The Birth Of Korean Cool“ als „wohl größte nationale Imagekampagne in der Weltgeschichte“ beschreibt. Damals hieß es, Südkorea solle künftig der globalen Gemeinschaft beitreten und die Pop-Kultur würde diese Botschaft in die Welt hinaustragen. Deshalb wird die Musik- und Unterhaltungsbranche aktiv von der Regierung gefördert. Längst erfreuen sich K-Pop-Bands von Manila über Peking bis nach Berlin großer Beliebtheit – und kurbeln den Export heimischer Produkte von Kosmetik bis hin zu Handys mit an.

Der nun ans Tageslicht gekommene Skandal um den Sänger Seungri schadet folglich auch dem Geschäft: Als der Pop-Star nach öffentlichem Druck seinen Rückzug aus der Band und der Öffentlichkeit angekündigt hatte, brachen die Aktien seines Labels YG Entertainment noch am selben Tag um 15,6 Prozent ein. Und der Skandal reicht noch tiefer: Seungri war laut Polizeiermittlern Teil einer Chat-Gruppe, in der ein Dutzend männlicher K-Pop-Sänger offen über Vergewaltigungspläne scherzten und heimlich gefilmte Sexaufnahmen weiterverbreiteten. Bereits drei berühmte Sänger aus dieser Gruppe haben ebenfalls angekündigt, sich vollständig aus der Unterhaltungsbranche zurückzuziehen. Auch ihre Fälle landen nun vor Gericht.

„Die Gewalt gegen Frauen ist strukturell – und

oft finden die Verbrechen im Verborgenen statt“

Seoyun, feministische Aktivistin

Dass es sich dabei um Ausnahmen handelt, bezweifelt Jon Kim. Der Radiomoderator war Ende der Neunzigerjahre selbst Teil der Unterhaltungsbranche. Als Sänger der Boyband Sharp zählte er zur ersten Generation des K-Pop. Schon damals, sagt er, seien sexuelle Belästigung und anzügliche Kommentare in der Branche an der Tagesordnung gewesen. Geschäftstreffen mit Industrievertretern hätten oft in „room salons“ stattgefunden – koreanischen Edelbordellen. „Wir haben die Belästigungen und Kommentare erdulden müssen, weil dies die einzige Chance auf Erfolg bedeutete“, sagt er heute, zwanzig Jahre später. „Es gibt zudem sogenannte Mittelsmänner, die bewusst auf weniger erfolgreiche Sängerinnen und Schauspielerinnen abzielen und diese mit reichen Geschäftsmännern aus Korea und Japan für sexuelle Dienste zusammenbringen“, erzählt Kim.

Solche Vorfälle gipfelten im Jahr 2009 im Suizid von Schauspielerin Jang Ja-yeon. In ihrem Abschiedsbrief schilderte die damals 27-Jährige, wie ihr Manager sie regelmäßig misshandelte und für sexuelle Dienste an seine Geschäftspartner weiterreichte. Infolgedessen wurden gegen mehr als zwanzig Männer polizeiliche Untersuchungen eingeleitet, darunter die Vorstände mehrerer großer Tageszeitungen sowie etliche Fernsehproduzenten. Verurteilt wurde damals nur Jangs Manager. Durch den aktuellen Skandal um Seungri will die Staatsanwaltschaft den Fall jetzt neu aufrollen.

Die Aktivistin Seoyun glaubt trotz allem, dass sich die koreanische Gesellschaft seit den #MeToo-Protesten letzten Jahres verändert habe. Frauen leisten nun offenen Widerstand, und viele Täter landen vor Gericht. Sie sagt: „Auch die koreanische Unterhaltungsindustrie wird sich verändern. Sexualstraftäter werden bald nicht mehr auf den TV-Schirmen zu sehen sein. Ihre Plätze werden von Sängerinnen eingenommen, denen früher keine Chancegegeben wurde.“