Seit an Seit für den Sozialstaat

Angesichts eines möglichen Regierungswechsels müssen sich Gewerkschaften und SPD darauf besinnen, welche Verantwortung sie für die Menschen tragen, die sie vertreten

Eine Niederlage der SPD ist auch eine Niederlage der Gewerkschaften: Ihnen droht weiterer Machtverlust

Die SPD befindet sich in einer tiefen Legitimations-, Orientierungs- und Organisationskrise. Sie hat seit 1998 etwa 25 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Es ist der Partei nicht gelungen, die mit der Agenda 2010 verbundene „Reformpolitik“ inhaltlich überzeugend zu begründen und in den Kontext des sozialdemokratischen Grundverständnisses von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit zu stellen.

Die Orientierungskrise der SPD und ein möglicher Verlust der Regierungsmacht in Berlin können und dürfen den Gewerkschaften nicht gleichgültig sein. Bei aller Verärgerung und Enttäuschung über die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Regierung Schröder ist eines unausweichlich: Eine Niederlage der SPD ist auch eine Niederlage der Gewerkschaften.

Union und FDP haben für den Fall, dass sie die Regierung stellen sollten, offen die Aushöhlung der Tarifautonomie, die Beschneidung der Mitbestimmung, die weitere Lockerung des Kündigungsschutzes, die Verschärfung der Arbeitsmarktreformen und neue Lasten für die Arbeitnehmer angekündigt. Selbst sinnvolle Maßnahmen, wie die Bindung der Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld an die Beitragsjahre, werden nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Schwarz-Gelb die Gewerkschaften zu randständigen Organisationen machen will.

Die Gewerkschaften haben in den ersten vier Jahren der Regierung Schröder Reformen zu ihren Gunsten durchsetzen können: Betriebsverfassung, Europäische Mitbestimmungsrichtlinie, Steuersenkungen für untere und mittlere Einkommen, Wiederherstellung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, europäische Industriepolitik sind die wichtigsten Stichworte. Vor der Wahl 2002 haben sie Schröder weitgehend unterstützt.

Mit der Agenda 2010 jedoch konnten die Gewerkschaften in weiten Teilen nicht einverstanden sein. Die Regierung profilierte sich als Reformkraft gegen sie. Darauf haben die Gewerkschaften nicht mit einer Neuorientierung, sondern mit einer Mischung aus Protest, halbherziger Akzeptanz politischer Entscheidungen und einer immer offeneren Orientierungskrise reagiert. Die Massendemonstrationen am 3. April 2004 waren Ausdruck von Protest, der Hoffnung, doch noch eine Wende zum Besseren zu erreichen, aber auch von Wut und Verunsicherung.

Seitdem hat sich das Klima zwar verbessert – aber die Frage, wie es denn weitergehen soll zwischen SPD und Gewerkschaften, wird sich spätestens nach dem 18. September wieder neu stellen. In dieser Krise müssen sich beide Seiten darauf besinnen, welche Aufgaben sie in unserer Gesellschaft zu erfüllen haben und welche Verantwortung sie für Demokratie, Sozialstaat und für die Menschen tragen, deren Interessen sie vertreten.

Sich besinnen bedeutet keineswegs Nabelschau, sondern sich frei machen – vom alten Denken in Seilschaften, von der verzweifelten Hoffnung auf ein schnelles Scheitern von Schwarz-Gelb, vom Spiel der Medien und vor allem sich frei machen von gegenseitigen Schuldzuweisungen. Selbstbesinnung und eine neue Positionsbestimmung sind immer mit Streit verbunden. Aber um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen muss öffentlich nachvollziehbar sein, worum gestritten wird.

Der DGB wird seinen Charakter als Einheitsgewerkschaft und seine parteipolitische Unabhängigkeit stärker betonen. Aber er braucht Ansprech- und Bündnispartner in der Politik. Ohne eine starke „Gewerkschaftslobby“ in den Parteien, aber auch ohne überzeugende Konzepte und Argumente werden wir weder unsere Vorstellungen zur Sozialstaatsreform durchsetzen noch grundlegenden Arbeitnehmerrechte bewahren können

Der Bezug zur SPD bleibt trotz aller Störungen auch in Zukunft das Paradigma der politischen Strategie der Gewerkschaften. Sie sind aber auch klug beraten, so viel Einfluss wie möglich auf die Union zu haben und darauf hinzuwirken, dass sie sich wieder stärker als soziale Volkspartei profiliert und von den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden distanziert. Erweitert werden kann dieses Handlungsfeld um die Kooperationen mit den Grünen und der Linkspartei.PDS dort, wo sich Gemeinsamkeiten finden.

Um nicht länger defensiv zu reagieren, sollten die Gewerkschaften ein Projekt in den Mittelpunkt ihrer politischen Strategie stellen: die Reform des Sozialstaates. Konservative und Liberale haben es verstanden, diesen zu diffamieren, seine Strukturprobleme zu übertreiben, Funktionsdefizite zu verschärfen und die Privatisierung von Lebensrisiken als attraktive Alternative anzubieten. Ihren Erfolg verdanken sie auch der mangelnden Fähigkeit der Gewerkschaften, der SPD des sozialstaatlich orientierten Flügels der Union rechtzeitig und umfassend Defizite zu benennen und zu beheben.

Angesichts hoher und andauernder Erwerbslosigkeit, zunehmend unsicheren und unterbrochenen Erwerbsbiografien und wachsender Armut muss das Sozialstaatsprinzip neu konzipiert werden. Dazu muss der Sozialstaates als Bürgerrechtsstaat ernsthaft diskutiert werden, und zwar über die in der deutschen Tradition wurzelnden Ansätze des Bismark’schen und des moderneren, aktivierenden Sozialstaates hinaus. Der klassische Sozialversicherungsstaat wird der Vielfalt der Erwerbsbiografien und der flexiblen Gestaltung der modernen Arbeitswelt immer weniger gerecht. Lücken entstehen, die auf Dauer auch ein Bürgerversicherung nicht vollständig schließen kann.

Schwarz-Gelb will die Gewerkschaften zu randständigen Organisationen machen

Das Konzept des aktivierenden Sozialstaates hat mit Hartz IV sein Waterloo in der Praxis erlebt. In Umsetzung des Sozialstaatesgebotes unseres Grundgesetzes muss jede weitere Reform sich den Grundsatz zu eigen machen: Jeder Bürger hat das Recht auf eine soziale Grundsicherung, die mehr ist als eine Armutssicherung. Finanziert aus Steuermitteln, setzt das keine Vorleistung voraus. Der moderne Staat verhält sich neutral gegenüber seinen Bürgern.

Eine Sicherung des Lebensstandards müsste ergänzend durch kollektive und private Versicherungssysteme erbracht werden. Ein moderner Staat sichert das Recht auf Bildung in einem umfassenden und diskriminierungsfreien Bildungssystem, auf Beschäftigungsfähigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Auf dieser Basis haben alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. Ihre Leistung für die Allgemeinheit besteht in der Pflicht zur Steuerzahlung nach der Höhe ihres Einkommens und ihres Vermögens.

Solidarität und soziale Gerechtigkeit als Grundlage eines modernen Sozialstaates auf der einen, Eigenvorsorge und weitgehende Privatisierung der sozialen Risiken als Vision eines Nachtwächterstaates liberal konservativen Zuschnitts auf der anderen Seite – das sollten die Eckpunkte der Auseinandersetzung um die Zukunft unseres Gemeinwesens sein, mit der die Gewerkschaften wieder in die Offensive kommen können – in der Gesellschaft und im Dialog mit den Parteien, namentlich der SPD. WOLFGANG
UELLENBERG-VAN DAWEN