Vioxx-Urteil lässt Pharmaopfer hoffen

Der Pharmariese Merck wird zu 253,5 Millionen Dollar Schadenersatz verurteilt. Er soll Nebenwirkungen des Medikaments Vioxx verschwiegen haben und so schuld am Tod eines Patienten sein. Nun wollen auch knapp 800 deutsche Opfer klagen

AUS BERLIN NICOLA LIEBERT

Nach einem Millionenurteil gegen den US-Pharmariesen Merck & Co. setzt ein Run auf den Konzern ein. Patienten aus aller Welt, die das Schmerzmittel Vioxx genommen hatten und Nebenwirkungen bis hin zum Infarkt erlitten, klagen auf Schadenersatz. Genauso deren Angehörige. Allein in den USA sind schon 4.200 Klagen anhängig.

Am Freitag hatte ein Gericht in Texas Merck in einem ersten Vioxx-Urteil zu einer Schadenersatzzahlung von 253,5 Millionen US-Dollar an die Witwe eines im Jahr 2001 an Herzrhythmusstörungen gestorbenen 59-jährigen Vioxx-Konsumenten verurteilt.

Die astronomische Summe dürfte allerdings auf 26 Millionen Dollar reduziert werden, da das texanische Gesetz Obergrenzen vorsieht. Trotzdem stürzte Mercks Aktienkurs am Freitag um 8 Prozent. Die auf Schadenersatzklagen spezialisierten Anwälte seien „Haie, und sie haben Blut gerochen“, kommentierte Juraprofessor David Logan aus Rhode Island.

Das Gericht hielt es für erwiesen, dass Merck über das erhöhte Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen Bescheid wusste, dies aber vor den Patienten geheim hielt. Der Anwalt der Klägerin hatte entsprechende firmeninterne Dokumente vorgelegt. Die Pillen wurden vor allem bei Arthritis verschrieben. Erst als Vergleichsstudien die erhöhte Gefahr eindeutig belegt hatten, nahm Merck Vioxx im September 2004 vom Markt. Der Konzern will nun sofort in Berufung gehen.

Auch viele Deutsche sind betroffen. Manche haben selbst plötzliche Infarkte oder ähnliche Erkrankungen nach der Einnahme von Vioxx erlitten. Andere haben Angehörige verloren. Sie alle wollen jetzt in den USA klagen. Zwar hat Merck auch eine Niederlassung in Deutschland, aber die Vioxx-Forschung ist schließlich in den USA durchgeführt worden. Zudem sind dort die Chancen auf einen saftigen Schadenersatz höher. Denn in den USA wird nicht nur der Schaden ersetzt, sondern meist eine viel höhere Summe als Strafe draufgesattelt.

„Das Urteil hat auch für alle deutschen Vioxx-Patienten Signalwirkung“, sagte der Berliner Anwalt Andreas Schulz. Er bereitet im Namen von 772 Geschädigten Klagen gegen Merck vor. Selbst deutsche Krankenkassen überlegen Presseberichten zufolge, auf Ersatz der Behandlungskosten der Vioxx-Nebenwirkungen zu klagen.

Vioxx war insgesamt fünf Jahre auf dem Markt und wurde von rund 20 Millionen Menschen eingenommen. Schätzungsweise gibt es hunderttausende Opfer, allein in Deutschland ist von bis zu 14.000 die Rede. „Wir wissen, dass wir verantwortungsbewusst gehandelt haben“, erklärte ein Merck-Anwalt am Samstag. „Wir planen, uns gegen jede einzelne Klage energisch zu verteidigen.“

Dennoch fragen sich viele Beobachter, ob sich Merck nicht doch früher oder später auf Vergleiche einlassen muss. Dabei würden dann Gruppen von Betroffenen mit einer Pauschalsumme entschädigt, die deutlich unter dem jetzt verhängten Urteil liegen dürfte.

Die Investment-Analysten werden den Fall nun sezieren. Merck hat im vergangenen Jahr immerhin 22 Milliarden Dollar Umsatz und 6 Milliarden Dollar Gewinn erzielt. Doch wird Merck die Schadenersatzzahlungen aus den für solche Fälle angelegten Rücklagen zahlen können? Oder wird das Unternehmen einen finanziellen Schlag erleiden, von dem es sich so schnell nicht mehr erholt?

Eine Nebenwirkung des Falles ist indes schon sicher: Die Kritik an der US-Medikamentenaufsichtsbehörde FDA wächst. Schon im letzten Herbst warf FDA-Wissenschaftler David Graham vor dem Senat in Washington seinem Arbeitgeber vor, die Hinweise auf Probleme mit Vioxx viel zu lange ignoriert zu haben. Am Freitag nach dem Urteil fragte der Wissenschaftler: „Wann wird die Öffentlichkeit auch die FDA für ihre Mittäterschaft verantwortlich machen?“

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