LESERINNENBRIEFE
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Es hätte anders ausgehen können

■ betr.: „Sarrazin verliert gegen die taz“, taz vom 15. 9. 12

Die Entscheidung des OLG Frankfurt am Main, die Klage von Herrn Sarrazin gegen den „alten Huren“-Vergleich der taz abzulehnen, ist zu begrüßen, da es das Presserecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung stärkt. Aber es hätte auch anders ausgehen können für die tageszeitung: Man stelle sich nur vor, Sexarbeiterin im gehobenen Lebensalter hätte sich juristisch dagegen gewehrt, mit Thilo Sarrazin verglichen zu werden. JAN WITTE, Berlin

Das Wohl der Kinder …

■ betr.: „Eine schrecklich nette Familie“, taz vom 15. 9. 12

Dieser Artikel ist ein Klassiker. Weil er das ganze Dilemma der Jugendhilfe beschreibt. Genau so wie am Ende die Unterstützung für die Familie zusammenaddiert wird, genau so wird die Hilfe organisiert: Familienhilfe – Haushalt, Familienhilfe – Sozialpädagogik, Therapie, Jugendhilfe, Helfertreffen. Das Paket sieht schön aus, am Ende steht die Addition von hilflosen Helfern, die einsam vor sich hinwursteln. Weil die Helfer oft nicht entsprechend qualifiziert sind und weil am Ende die Zusammenarbeit nicht unter professionellen Aspekten organisiert ist: zu wenig Zeit, keine gemeinsamen Zielvereinbarungen, keine Evaluierung mit Konsequenzen für die Hilfe und unterschiedliche Hilfeansätze bei der gemeinsamen Klientel. Und am Ende steht der berühmte Satz: „Wir haben doch alles getan.“

Und schon die Addition der Euros stimmt nicht, weil die Folgekosten nicht eingerechnet sind. Schon im Studium wird gelernt, dass jede präventive Maßnahme entsprechende Folgekosten mildern hilft. Schulschwänzen, Verwahrlosung, Kriminalität, Knast, Kriminalität – wenn der Teufelskreis nicht gestoppt wird, kommt es oft zur Katastrophe. Und wehe, die geschundenen Kinder gründen später eigene Familien. Dann geht das alles von vorne los!

„Heimerziehung ist für die Kinder eine traumatisierende Erfahrung.“ Dieser Satz ist ebenso falsch wie die Beschönigung der Familienhilfe („von den möglichen noch die beste Lösung“) Unsinn ist. Gute Heimerziehung bietet den Kindern alles, was Familie ihnen wegnimmt: Rückzug, Ruhe, Unterstützung, Schutz, Struktur, Gemeinschaft, Zusammenhalt und Anerkennung. Und wenn es gut läuft, kann auch die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie und dem Heim zur Rückführung in die Familie führen. Dass die Heimerziehung immer mehr zum Nachteil der Kinder und Jugendlichen organisiert wird, ist ein anderes gesellschaftliches Problem. Wir können die Eltern nicht an den Pranger stellen. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass diese Eltern ihre Kinder in die Katastrophe begleiten, nur weil sie sie lieben. Und wir dürfen das Elternrecht nicht überbewerten, weil das Wohl der Kinder über allem zu stehen hat, ohne Wenn und Aber! WOLFGANG RAUCH, Sonderpädagoge, Kronau

Lieber eine mittelmäßige Familie

■ betr.: „Eine schrecklich nette Familie“, taz vom 15. 9. 12

Ein mutiger Mann. Lieber eine mittelmäßige Familie mit – relativ –preisgünstiger Familienhilfe und Liebe als ein teures, kaltes Heim, das aus den Kindern sicher keine besseren Erwachsenen machen wird. In England wird diese Art Hilfe auf breiter Ebene praktiziert und verursacht weniger Katastrophen als das – inhumane – deutsche Entzugssystem. GERHARD SPAHR, taz.de

Herr Bernau beschönigt

■ betr.: „Deutsche Geschichte. Kuhdorf und Stalingrad“,taz vom 12. 9. 12

Herr Bernau hat ganz offensichtlich Schreckliches erlebt. Er erzählt davon, aber er sagt nicht, wie er heute dazu steht: dazu, dass Deutschland diesen Krieg angefangen hat; dazu, dass er zum Flakschutz einer SS-Division gehörte – oder zu den Judenerschießungen. Herr Bernau beschönigt: „Das war wie im Urlaub.“ „Gräueltaten gab es auf beiden Seiten.“ Und auch Herr Biebermann scheint nicht nachgefragt zu haben. Dass Herr Bernau in der DDR nicht davon erzählen konnte, möchte ich hinterfragen. Auch in der alten Bundesrepublik haben ehemalige Soldaten nicht oder nur wenig über ihre Erlebnisse gesprochen. Geschichte zu verstehen geht nur, wenn man umfassend weiß, was gewesen ist. Das darzustellen erwarte ich von meiner Zeitung. Oral History ist entschieden zu wenig. Gerade in einem Land, das zwei Weltkriege verursacht hat! JUTTA RICHTER, Berlin

Stereotype in Pädagogenköpfen

■ betr.: „Lieber erst mal eine Lehre“, „Umstieg ins andere Milieu“, taz vom 11., 13. 9. 12

Selbstverständlich sind nichtakademische Berufe ebenso respektabel wie akademische. Aber sind die Angehörigen dieser Gruppen tatsächlich so hermetisch voneinander getrennt, dass ein Umstieg irreversibel wäre? Ich hatte als Arbeiterkind weder in der gymnasialen Oberstufe noch später beim geisteswissenschaftlichen Studium nennenswerte Akklimatisierungs- oder Akzeptanzprobleme. Ebenso wenig kam es zu einer Entfremdung von Familie oder ursprünglichem Umfeld. Zudem kann man Arbeiterfamilien wohl nicht pauschal als bildungsfern bezeichnen, und schließlich gibt es auch Akademikerkinder, die ein Studium abbrechen oder ganz darauf verzichten. Will sagen: Klar ist die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems stark verbesserungsbedürftig, aber es krankt halt auch an den Stereotypen in Pädagogenköpfen.

FRANK PÖRSCHKE, Hattingen