„Niemand ist katholischer“

AUS KÖLN LUTZ DEBUS

„Wie Woodstock, nur ohne Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll.“ Der das sagt, muss es wissen. Der Mittfünfziger mit den grauen Rastalocken lässt seinen Blick schweifen: das Marienfeld am Samstagabend. Menschen bis zum Horizont. Hinter dem Hügel, auf dem der Papst sprechen wird, steigt der Dampf der Kühltürme in den fast wolkenlosen Himmel. Die Bilder, die um die Welt gehen – hier sind sie live und in Farbe zu erleben: der weiße Baldachin, der Hang mit den tausenden Kerzen, Papst Benedikt XVI., als Ahnung, als weißer Punkt im Scheinwerferlicht. Vigil heißt diese Veranstaltung. Ein abendliches, stilles Gebet. Die Menge johlt bei den ersten Worten des Papstes. Die Bilder sind bekannt. Fernsehbilder. Aber es gibt noch andere Bilder von diesem Weltjugendtag.

Donnerstag, 12.30 Uhr

Angela will nach Köln. Unbedingt. Nun hockt sie auf dem Boden des überfüllten S-Bahn-Waggons. Eine Stunde dauert die Fahrt vom nördlich gelegenen Dormagen zu den rechtsrheinischen Teilen Kölns. Um sie herum sitzen über hundert französische Pilger. Direkt vor ihr steht ein Mönch. Angela mustert seine Füße. Abgetragene Sandalen. Viel Hornhaut. Lange Fußnägel. Seine Gebetskette baumelt vor Angelas Gesicht.

Der Mönch hört einer jungen Frau zu. Daniela ist die Übersetzerin der französischen Gruppe. Die 21-Jährige kommt aus Baden-Württemberg. Nach dem Abi, erzählt sie, musste sie erst mal zur Ruhe kommen. Drei Monate hat sie in einem südfranzösischen Kloster verbracht, ein weiteres Vierteljahr in einem auf den Philippinen. Seitdem hat sie engen Kontakt zum Orden des Heiligen Johannes. Der Mönch hört aufmerksam zu, lächelt. Dann wendet sich Daniela Angela zu. „Und was machst du da unten?“

Angela ist erst zehn Jahre alt. Ihr Vater wollte nicht mitkommen. „Der glaubt nicht an Gott.“ Und die Mutter hat zu tun. Angela erzählt von ihrem Religionsunterricht: Die eine Lehrerin habe alle fertig gemacht, die die Bibelverse nicht auswendig konnten, die andere habe Mandalas ausmalen lassen. „Was hat das bloß mit Religion zu tun?“, fragt Angela. „Vom Papst kann ich sicher noch etwas lernen.“ In Köln-Deutz leert sich der Zug. Zum Abschied schenkt Daniela Angela eine Gebetskette.

13.45 Uhr

Richtung Süden zieht der Pilgerstrom Richtung Poller Wiesen. Dort wird der Papst von einem Schiff aus eine Ansprache halten. Am Weg liegt eine Tankstelle. Die Kassiererin ist genervt: Nein, den Toilettenschlüssel gebe sie nur Kunden, die tanken. Eine ältere Dame in einem weiten, lilafarbenen Batikkleid kichert: „Da haben es die Männer besser!“ Ein korpulenter Geistlicher antwortet in breitem Schwäbisch: „Des wird überschätzt.“

Von der Hauptstraße zweigt ein Weg ab. Kilometerweit geht es an Schrottplätzen vorbei. Unvermittelt dann hinter einer Biegung das Ziel: die Poller Wiesen, der Rhein. Ein idealer Picknickplatz. 40.000 Pilger sind mittlerweile hier angekommen. Auf der linken Seite des Areals ist eine Großbildleinwand aufgebaut. Zwei Kilometer weiter Richtung Norden baumeln ein paar Lautsprecherboxen an Autokränen.

15.30 Uhr

Thomas trägt ein T-Shirt vom Hard-Rock-Café Miami. Er ist verzweifelt. Hier, an der Südbrücke kann der Gemeindereferent den Papst zwar auf der Leinwand sehen – aber nicht hören. Die 33 Jugendlichen aus Neuburg-Schrobenhausen bei Ingolstadt, die er bis hierhin geführt hat, wollen aber nicht mehr weiterlaufen, selbst wenn sie Benedikt von hier aus nicht hören können. Ein Mädchen deutet auf ihren blutigen Fußverband. Thomas gibt nach, die Neuburg-Schrobenhausener setzen sich.

Er schaut in die Menge. Das bunte Treiben stimmt ihn versöhnlich. „Das Schöne ist, dass hier alle gleich sind“, sagt er, „niemand ist katholischer.“

16.45 Uhr

Eine tschechische Pilgergruppe schlängelt sich durch die Menge. Einige von ihnen haben im Rhein gebadet. Knaben in tropfnassen Unterhosen und junge Nonnen in schwarzen Umhängen, Hand in Hand, bilden eine Kette. Niemand soll verloren gehen.

Auf der Videoleinwand wird inzwischen ein Gospelkonzert gezeigt. Aber statt Gospel hört man eine Gruppe junger Japaner, die darunter sitzen und auf westafrikanischen Djemben trommeln. Wenn sie eine Pause machen, erklingt von weitem ein Dudelsack. Eine globale Tonspur zur unfreiwilligen Stummfilmvorführung.

17.00 Uhr

Applaus brandet auf. Auf der Leinwand ist zu sehen, wie der Papst ein Schiff besteigt, wie eine Frau in südafrikanischem Gewand ihn umarmt, ein Mexikaner mit enormem Sombrero seinen Ring küsst. Benedikt XVI. lächelt. Dann kommt das Schiff den Rhein entlang gefahren. Es ist groß: 4.000 Jugendliche aus aller Welt sind an Bord.

Jetzt und hier ist der Papst für die Menschen auf den Poller Wiesen und die, die bis zu den Knien im Rhein stehen, wirklich da, nicht nur als Fernsehbild. Es scheint, als schwebe der weiße Katamaran über dem Deich. Die Motoren arbeiten stampfend gegen die Strömung. Das Schiff bleibt mitten im Fluss stehen. Eine weiß gekleidete Figur tritt an die Reling. Die Worte des Papstes gehen unter in Sprechchören und Jubel. Ein Afrikaner hält sein kleines Radio direkt ans Ohr. Er nickt zu dem, was er hört.

20.00 Uhr

Müde, hungrig und enttäuscht macht Angela sich auf den Heimweg. Den Papst hat sie kaum erkannt, so weit weg war er. Und gehört hat sie ihn auch nicht. Der Bahnhof Deutz ist von der Polizei abgeriegelt: zu viele Menschen, zu wenige Züge. Angela setzt sich in der Bahnhofshalle unter eine Werbetafel. Auf dem Plakat winkt Benedikt. Dazu ein Zitat: „Führt die Menschen aus der Wüste der Armut.“ Daneben hängt ein Geldautomat. Eigentlich wollte Angela am Sonntag zum Abschlussgottesdienst aufs Marienfeld. Bleibt es dabei? „Eher nicht.“

Samstag, 14.00 Uhr

Das Marienfeld, zwanzig Kilometer östlich von Köln. Eine Landschaft aus der Retorte. Früher wurde hier Braunkohle gebaggert.

Sechs muskulöse Kerle liegen im Gras. Trotz des kühlen Wetters nackte Oberkörper, manche tätowiert, einer mit Brustwarzenpiercing. Sie sind Soldaten auf Sonderurlaub, ihre Fernmeldeeinheit ist in Müllheim in Baden stationiert. Der 26-jährige Andreas hofft auf den Ablass, den er am Sonntag vom Papst erhalten wird. „Ich hab viel gesündigt. Das lohnt sich bei mir“, witzelt der Berufssoldat. Dann wird er ernst: Die vielen Kulturen hier, friedlich beisammen, begeistern ihn. „Wenn ich sonst mit einer Deutschlandfahne durchs Land gehe, freut sich niemand. Hier bekomme ich sogar Applaus.“

Zehn Meter weiter Richtung Bühne wird eine andere Flagge geschwenkt. Stars and Strips versperren die Sicht. „Die Fahne runter!“ skandiert ein Sprechchor. „Viel besser als andersrum“, murmelt ein älterer Mann mit Pfeife und Kinnbart.

17.20 Uhr

„Ich bin hier, um den Papst zu supporten.“ Peter freut sich auf die Messe mit Benedikt XVI. Seinen kahlen Kopf verbirgt er unter einem Stoffhütchen, seine Augen hinter einer Designer-Sonnenbrille. Die Wahl Josef Ratzingers zum Pontifex sei eine große Gelegenheit für Deutschland. „Wir sind ein Volk, das gerne denkt. Und er ist ein Intellektueller.“ Peter kommt aus Frankfurt am Main. Erst vor kurzem ist er zur katholischen Kirche zurückgekehrt, zuvor hat der 46-Jährige Erfahrungen mit Taoismus und Schamanismus gemacht. „Es gibt aber auch Spiritualität in der katholischen Kirche. Man muss sie nur suchen.“

Peter arbeitet in der Werbebranche – und ehrenamtlich für marysmeals.de. Die Hilfsorganisation kümmert sich um Schulspeisungen in der Dritten Welt. Lebt Peter auch sonst nach der katholischen Morallehre? „Zuerst war das für mich eine bittere Pille“, sagt er. „Aber ich kann ja beichten gehen.“ Außerdem sei die Kirche im Wandel. Papst Benedikt XVI. sei nicht mehr Joseph Kardinal Ratzinger. „Gott nimmt den Menschen und verändert ihn. Er verändert mich. Er verändert aber auch Josef Ratzinger.“

21.25 Uhr

Der Papst predigt von den Heiligen Drei Königen. Erst auf Deutsch, später auf Englisch, Spanisch und Italienisch: Die drei Weisen hätten einen König gesucht und ein Kind armer Eltern gefunden …

In der Dunkelheit sitzt Rosa aus Mexiko. Nach den ersten Sätzen des Papstes auf Spanisch beginnt sie zu schluchzen. Ihre Freundin tröstet sie. Später übersetzt Rosa die Predigt ins Deutsche: Benedikt habe über das Thema Revolution gesprochen. Im 20. Jahrhundert habe es viele Revolutionen gegeben. Immer habe der Mensch behauptet, die objektive Wahrheit zu kennen. Daraus seien totalitäre Regime erwachsen. Erst, wenn der Menschen Gott folge, so die freie Übersetzung der jungen Mexikanerin, könne Liebe herrschen.

Rosas Gastgeber aus Wuppertal nicken. In diesem Moment erklingt ein klagender Ton. Giora Feidman spielt auf seiner Klarinette eine jüdische Trauermusik. Überall werden die Kerzen angezündet.

23.45 Uhr

Es ist kalt, so kurz vor Mitternacht auf dem Marienfeld. Zwei junge Polinnen rollen ihre Schlafsäcke aus. Ganz in der Nähe hören sie eine ähnliche Sprache. Sie entdecken zwei Jungs und ein Mädchen aus der Ukraine. Adressen werden ausgetauscht. „Und, wie fandet ihr den Weltjugendtag?“, will einer der jungen Ukrainer wissen. Das eine Mädchen aus Polen lacht: „Der Dom ist riesig groß. Aber der Papst ist winzig klein.“