berliner szenen: Man war ja selbst eine Ware
Die Beobachtung, dass die große Auswahl an möglichen Partnern und eigenen Identitäten uns zögern lässt und somit, also durch die Überforderung, das Leid verstärkt, greift zu kurz, dachte ich: Es lag nicht an der großen Auswahl. Die war nur scheinbar. Es war die geringe Wahrscheinlichkeit einer Gegenseitigkeit, die umso stärker auffiel, je mehr Auswahl man angeblich hatte: Was, wenn sich die Objekte ständig präsentierten, aber sich, war man endlich zuzugreifen versucht, der Wahl entzogen? War das, wie in einem Supermarkt zu stehen, aber kein Geld zu haben? Man war ja auch selbst eine Ware. Eine weitere, die sich anbieten musste. Eine Ware, die einen Supermarkt aufsucht. Ich musste lachen, aber niemand im Wartezimmer lachte mit. Wie auch.
Die Wahl konnte man aber auch nicht sein lassen, dachte es in mir weiter: Zu nehmen, was sich anbot, im Echtsinn wahllos, bot auch keine Befriedigung. Mit Affären wurde ich nicht glücklich, solange das Eigentliche nicht zu haben war (die letzte hatte mit einem Ausflug an ein Baggerloch geendet, jenseits von Karlshorst – drei Tage Wasser im Ohr und dann nie wieder von ihr gehört).
Ich sah noch einmal auf die Punkfrau. Sie stützte sich auf ihren Rollator und sah müde vor sich hin, sah irgendwie sediert aus. Ob sie für ihren Freund und Begleiter das Eigentliche war? So sah es doch am Ende aus: Alle hatten jemanden. Jemanden, der sich kümmerte. Von dem kleinen Mann, der eben in der Sprechstunde verschwunden war, abgesehen. Vielleicht war er bewusst allein, weil er dem Motto „Keep away from toxic relationships“ folgte. Aber wann war eine Beziehung toxisch, und wann schien es nur so? Und müsste ich nicht mal langsam aufgerufen werden? Die Sprechstundenhilfe lächelte. „Ja, Sie sind jetzt dran.“
René Hamann
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