Künstlerische Kontrapunkte

STADT-KUNST Metallkasten-Vogelschwarm, Klanginstallation und Pfützenperformance: In der Ausstellung „Kunst findet Stadt“ präsentiert der Kunstverein Wolfenbüttel elf über die ganze Stadt verteilte Arbeiten. Einzige Bedingung: die Ortsbezogenheit der Intervention. Entsprechend groß ist das Spektrum

Die acht glücklichsten Tage seines Lebens soll Giacomo Casanova nach eigenen Angaben hier verbracht haben: in Wolfenbüttel. 1764 verkroch er sich während einer Lebenskrise in die herzogliche Bibliothek, arbeitete an seiner Übersetzung der Ilias. Der alte Bibliotheksbau mit seiner zentralen Rotunde ist zwar längst einem Neorenaissance-Kasten gewichen. Ansonsten scheint Wolfenbüttels Baubestand aber aus Casanovas Zeiten überkommen zu sein.

Andernsorts ließe sich derart surreales Setting jedenfalls schwer finden: Ins so genannte Prinzenpalais, ein Barockhaus, lud der örtliche Kunstverein zur Eröffnung der Ausstellung ‚Kunst findet Stadt‘, genauer: in dessen Saal mit authentischer Ausstattung aus dem 19. Jahrhundert, die wohl noch nie eine Renovierung erlebt hat.

Mit seinem Selbstverständnis ist der Kunstverein Wolfenbüttel allerdings in der Gegenwart zu Hause: man trifft auf die üblichen Verdächtigen aus der Braunschweiger Kunsthochschule. Die aktuelle Ausstellung mit elf über die Stadt verteilten Arbeiten im Außenraum und einer Fotoarbeit im Hause bedient sich schwerpunktmäßig auch deren Absolventen. Dreizehn Teilnehmer wurden eingeladen und durften sich frei betätigen, die einzige Bedingung war die Ortsbezogenheit ihrer Intervention.

Das Spektrum der Arbeiten ist entsprechend groß. Einen der raren modernen Unorte entdeckte der Kieler Hendrik Lörper für sich. Im Parkhaus am Rosenwall besetzt er drei Einstellplätze mit einer gut 20 m[2]großen Platte, die von einer mechanischen Unterkonstruktion zu meditativen Verkippungen bewegt wird. Präsenter im öffentlichen Stadtbild gibt sich eine ganze Reihe weiterer Arbeiten. Klaus Kleine stört mit filigran gesetzten Stahlstäben die barocke Ordnung im Garten des Lessinghauses, Sina Heffner siedelt einen Vogelschwarm im Seeligerpark an, die Silhouetten erwachsen aus verschachtelten Metallkästen.

Unübersehbar auch das ‚Target‘ von Lichtkünstler Bernd Schulz auf der Giebelwand eines Hauses. Der weiße Styroporring von drei Metern Durchmesser soll abends rot leuchten – war zur Eröffnung allerdings noch nicht recht funktionstüchtig. Und der Düsseldorfer Clemens Botho Goldbach griff gleich zur Maurerkelle, ließ Bibliotheksrotunde und Seitenportikus aus Casanovas Zeiten an historischem Ort wiederauferstehen, wenngleich nur als fragmentarische Andeutung aus modernem Billigbaumaterial. Aktionskunst gibt es noch: eine Petition zur Überwindung der genetischen Grenze zwischen Mensch und Affe kann beim Berliner Reiner Maria Matysik gezeichnet werden, im imaginierten Wohnhaus des Wolfenbütteler Primatenforschers Wolfgang Köhler. Und die Französin Lucie Mercadal, derzeit Studentin in Braunschweig, lädt zur spontanen Pfützenperformance.

Die subtilste Arbeit entzieht sich hingegen klug physischer Anwesenheit. Elisabeth Stumpf und Dennis Graef überlagern in ihrer Klanginstallation ‚Disappear Here‘ das Rauschen der Oker neben Schünemanns Wassermühle mit leichtem Maschinensound. Kompositorisch ein synthetischer Dreiklang mit graduellen Übergängen, suggeriert er einen spürbaren Sog in die Tiefe. Der Klang ist eigentlich so fein, dass man seine Sinne fordern muss – gleichwohl gab es Anwohnerbeschwerden. Nun ertönt er nur dreimal täglich – dafür ein wenig lauter.BETTINA MARIA BROSOWSKY

■ Wolfenbüttel: Innenstadt und Kunstverein Wolfenbüttel, bis zum 14. Oktober