piwik no script img

berliner szenenDer Engel lächelt dünn

Am Ostkreuz steigt eine Schulklasse ein. Teenager. 16, 17 Jahre alt. Was machen die hier um die Uhrzeit? Sie verteilen sich auf den freien Sitzen und schnattern.

Die makellosen Kindergesichter der Mädchen sind mit millimeterdicker Schminke bestrichen. Ich schminke mich ja fast nur noch für die Bühne. Das ist der Vorteil, wenn man über dreißig ist. Man verändert sich nicht mehr so schnell und erschrickt nicht mehr jedes Mal, wenn man an einem Spiegel vorbeiläuft.

Drei Engel für Charlie stecken die Köpfe zusammen. Aber nicht, um sich was zu erzählen, sondern um ein Foto davon zu machen, wie sie die Köpfe zusammenstecken. Ein schlaksiger Junge mit bedauernswertem Akne-Ausschlag drängelt sich in die Mädchengruppe. Er hat es offenbar auf einen der Engel abgesehen. Zwei der Mädchen kichern, nur eines schaut unbeteiligt beiseite. Sie ist wohl die Angebetete.

Was er wohl sagen wird, um sie zu beeindrucken, überlege ich, als er sagt: „Diese Nagellackfarbe steht dir echt irre gut!“ Echt jetzt, denke ich. Die Nagellackfarbe!? Der Engel lächelt dünn. Der Junge bleibt dran. Er hat diesen Weg betreten, jetzt geht er ihn auch weiter. „Machst du die jeden Tag neu?“, fragt er.

Sie verdreht die Augen und murmelt: „Nee, die hab ich schon die ganze Woche!“ Sie betrachtet prüfend ihre Fingernägel. Dann taucht sie ihren Arm bis zur Schulter in eine riesige Handtasche. Ich muss an Mary Poppins denken, die in ihrer Tasche ganze Wohnungseinrichtungen herumträgt. Der Engel rührt dreimal die Tasche um und fördert ein Nagellackfläschchen zutage. Der Junge wird ganz aufgeregt. „Soll ich das für dich halten?“, fragt er. „Dann kannst du in Ruhe lackieren.“ Der Engel überlegt kurz, dann gibt er ihm die Flasche. Ich bin beeindruckt. Das muss Liebe sein.

Lea Streisand

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen