: NSU ist nicht Neckarsulm
Der Heilbronner Polizistenmord wirft immer neue Fragen auf. Und sie zielen mitten in den baden-württembergischen Verfassungsschutz (LfV). Ein früherer Geheimdienstler hat jetzt vor dem Berliner Untersuchungsausschuss ausgesagt, dass er den Sicherheitsapparat bereits 2003 über die NSU-Terrorgruppe informiert habe. Ermittelt wurde – gegen ihn. Und was sagt der frühere LfV-Chef und heutige Regierungspräsident Johannes Schmalzl? Er könne sich an nichts erinnern
von Thomas Moser
Der Zeuge ist als Günter S. angekündigt. So abgekürzt steht der Name auch auf dem Schild vor dem Stuhl im Saal 4900, wo er am Abend des 13. September Platz nimmt. Einen ganzen Tag lang schon läuft die Sitzung, in deren Mittelpunkt der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen Martin A. in Heilbronn am 25. April 2007 stehen. Bis spät in die Nacht werden vier Zeugen angehört: der Leiter der polizeilichen Sonderkommission, der zuständige Staatsanwalt aus Heilbronn, ein früherer LfV-Präsident und der frühere LfV-Mitarbeiter Günter S. Doch der will sich gar nicht verstecken. Er heiße Stengel, sagt er, den Namen dürfe jeder wissen. Der Mann ist 60 Jahre alt, wirkt aufrichtig und passt nicht zum kalten Schlapphut-Image. Was er dann berichtet, lässt Abgeordnete und Zuhörer aufhorchen.
Das Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe tauchte im Jahr 1998 unter. Die Mordserie der NSU-Gruppe wurde zwischen dem 9.September 2000 und jenem 25. April 2007 verübt.
Sommer 2003: ein Pfarrer gibt den ersten Hinweis
Im Sommer 2003, berichtet Günter Stengel, wandte sich der evangelische Pfarrer von Flein an das Innenministerium in Stuttgart, weil ein Mann ihn aufgesucht und gebeten hatte, Kontakt zu den Sicherheitsbehörden herzustellen. Er wolle etwas über rechtsradikale Umtriebe mitteilen. Das Innenministerium setzte sich mit dem Verfassungsschutz in Verbindung, und der schickte seinen Mitarbeiter Stengel los. An einem heißen Augusttag 2003 fuhr er nach Flein und traf in den Räumen der evangelischen Gemeinde mit dem Mann zusammen. Der nannte sich zunächst „Stauffenberg“, Stengel kennt aber seinen wirklichen Namen.
Stauffenberg soll fünf Jahre im Gefängnis gesessen haben, wegen eines Bankraubs, den er aber gar nicht begangen haben will. Jedenfalls kam er im Knast mit Leuten aus der rechtsextremen Szene Ostdeutschlands in Kontakt. Der hielt über die Haftzeit hinaus. Er besuchte sie in Sachsen und Thüringen, sie ihn in Heilbronn. Informant Stauffenberg, so der Zeuge weiter, nannte ihm fünf Personen. Einer hieß Mundlos. Den habe er sich merken können, weil er damals witzelte: Das passe ja zu seiner Tätigkeit als Geheimdienstler. Die vier anderen Namen habe er notiert, wisse sie aber nicht mehr. Schließlich habe der Informant noch eine rechtsterroristische Vereinigung namens NSU genannt. Er habe nachgefragt, ob er richtig gehört habe, denn NSU steht für Neckarsulm, das wisse jeder in Baden-Württemberg. Der Informant habe den Namen bekräftigt und erklärt, das sei eine Organisation wie einmal die RAF auf der linken Seite.
Verfassungsschutz: NSU gibt es nicht
Das Gespräch dauerte vier Stunden. Verfassungsschützer Stengel fuhr zurück in sein Büro und fertigte einen Bericht. Doch dann forderten seine Vorgesetzten ihn auf, diesen Bericht zu vernichten. Begründung: Eine Organisation namens NSU gebe es nicht, das LfV würde nur bekannte Organisationen beobachten. Und Einzelpersonen würden auch nicht beobachtet. Er sollte lediglich einen Vermerk schreiben, dass das Gespräch mit dem Informanten stattgefunden habe, aber ohne konkreten Inhalt. Es dürfe von den Namen nichts übrig bleiben, sei er angewiesen worden. Mundlos und NSU habe er sich aber aus den genannten Gründen merken können.
„Wer sagte Ihnen, das muss wieder vernichtet werden?“, will Clemens Binninger, Obmann der CDU im Ausschuss, wissen. Stengel: „Darf ich nicht sagen. Dafür habe ich keine Aussagegenehmigung.“ Binninger: „Waren es Funktionsinhaber im LfV?“ Stengel: „Ja.“ Der Ausschuss will jetzt die LfV-Verantwortlichen vorladen.
Die Sache mit dem Informanten Stauffenberg schien erledigt. Doch im Jahr 2005, so Stengel weiter, habe er einen Anruf von einem Verfassungsschutzkollegen des Bundesamts bekommen. Der habe nach Stauffenberg und dessen Informationen gefragt. Er, Stengel, habe sie daraufhin nach Köln geschickt. „Das war ein großer Fehler“, weiß er heute: „Ich wusste nicht, dass das BfV das nicht wissen durfte.“ Er bekam im LfV eine offizielle Rüge. Das bedeutete Beförderungsstopp, den Anfang vom Ende seiner Karriere. Zwei Jahre später wurde er, 55 Jahre alt, wegen „Dienstunfähigkeit“ in den Ruhestand versetzt.
Dann kam der 4. November 2011 mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, der Aufdeckung der NSU-Gruppe und des Zusammenhangs der zehn Morde von Nürnberg bis Heilbronn. Stengel erinnerte sich an die Aussagen seines LfV-Informanten von 2003, in denen eben Mundlos und der Begriff NSU auftauchten. Er wandte sich nun an das BKA und wollte das mitteilen. Stattdessen bekam er Besuch vom Landeskriminalamt. Dass er das BKA kontaktierte, wertete sein ehemaliger Dienstherr, das LfV, als potenziellen Geheimnisverrat. Gegen ihn wurde nun ermittelt. „Ich habe gedacht, jetzt müssen alle Demokraten zusammen das aufklären, aber …“ Er beendet den Satz nicht. Es ist inzwischen spät geworden im Abgeordnetenhaus, doch die Ausschusssitzung ist noch lange nicht zu Ende.
Um 22 Uhr 30 nimmt der Stuttgarter Regierungspräsident Johannes Schmalzl vor den Abgeordneten Platz. Er ist als Zeuge geladen, weil er von 2005 bis 2007 Präsident des Landesverfassungsschutzes war, der Chef von Günter Stengel. Ob er sich an Gespräche mit Herrn Stengel erinnere, wird er gefragt. Ja, antwortet Schmalzl, er habe ihm die Ruhestandsurkunde persönlich überreicht. Ob er wusste, dass dem LfV durch seinen Mitarbeiter Stengel im Jahre 2003 unter anderem die Namen Mundlos und NSU bekannt geworden seien. Nein, er habe nichts Derartiges erfahren. Er könne es auch nicht glauben. „Herr Stengel war doch im Jahre 2005 bei Ihnen“, wird dem Ex-LfV-Chef von einem Ausschussmitglied vorgehalten, „weil er eine scharfe Verwarnung bekam, nachdem er diese Informationen ans BfV weitergegeben hatte.“ Er könne sich an ein solches Gespräch nicht erinnern, entgegnet Schmalzl unbewegt.
Informant Stauffenberg ist inzwischen von der Polizei neu vernommen worden. Doch zum Thema Rechtsextremismus soll er da nichts ausgesagt haben. Auch über Mundlos und NSU nichts. Das erklärt Axel Mögelin. Er ist der Leiter der Sonderkommission Parkplatz beim LKA Baden-Württemberg, das den Mord in Heilbronn aufklären soll, und der erste Zeuge, der an diesem Tag vom Ausschuss befragt wird. Stengel kommt später. Es steht Aussage gegen Aussage, Informant gegen Verfassungsschützer. „Wem glauben Sie mehr“, will ein Obmann wissen, „der Quelle oder einem ehemaligen LfV-Mitarbeiter?“ – „Ich halte mich an die Fakten“, antwortet Axel Mögelin. Außerdem gebe es im Amt ja auch keine entsprechenden Informationen. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat angewiesen, der Spur nicht weiter nachzugehen.
Mit den Wattestäbchen sind die Ermittler ausgelastet
Mögelin ist schon der dritte Leiter der Soko. Er begann seine Arbeit im August 2010. Der Mordfall Heilbronn ist der mit den meisten Fragen, der rätselhafteste der zehn Morde. Er fällt aus dem Muster der vorangegangenen neun Anschläge, denen acht türkische und ein griechischer Gewerbetreibender zum Opfer fielen. Und mit ihm endeten die Morde. Er könnte der Schlüssel zur gesamten Serie sein.
Zwei Jahre lang suchten die Ermittler ein Phantom, eine unbekannte, mörderische Frau, ehe sich herausstellte, dass die Wattestäbchen für die Aufnahme von DNA-Proben kontaminiert waren. Mehrere Dutzend Kriminalfälle waren dadurch fälschlicherweise in einen Zusammenhang geraten, weil überall dieselben DNA-Spuren festgestellt wurden, vom Kioskeinbruch bis zum Mord. Die Ermittler waren schließlich komplett blockiert. Jetzt sieht man aber: Im Schatten dieser Ermittlungskatastrophe begingen Polizei und Staatsanwaltschaft zahlreiche weitere Fehler und Unterlassungen.
In Tatortnähe, der Theresienwiese in Heilbronn, wurden unter anderem Papiertaschentücher mit Blut sichergestellt. Doch erst mehr als zwei Jahre später, im Mai 2009, wurden sie molekulargenetisch untersucht. Warum? Die Taschentücher hätten damals keine Tatrelevanz gehabt, antwortet Mögelin. Sämtliche Videoaufnahmen von Überwachungskameras in der Umgebung des Tatorts, von Tankstellen, Geschäften, Bahnhof, stellte die Polizei sicher. Doch erst drei Jahre später, 2010, wurde mit der Auswertung der Aufnahmen begonnen. Warum? Das könne er nicht sagen, sagt Mögelin, aber sie hätten insgesamt sehr gut gearbeitet. Die Filme werden beim BKA immer noch geprüft.
Weiter: Bei der Ringfahndung wurde an der Kontrollstelle in Oberstenfeld das Kennzeichen des Wohnmobils notiert, das das NSU-Mitglied Uwe Böhnhardt angemietet hatte und mit dem die mutmaßlichen Täter geflüchtet sind. Das weiß man heute. Damals unterließ die Polizei es, die Halter der Kennzeichen überhaupt abzufragen. Warum? „Wir hatten über 30.000 Kennzeichen erfasst“, sagt Mögelin, die habe man unmöglich alle abfragen können. Man habe es in einzelnen Fällen getan, wenn es einen Verdacht gab.
E-Mails von Michèle Kiesewetter? Uninteressant
Warum wurden die privaten E-Mails der erschossenen Polizistin Michèle Kiesewetter nicht sichergestellt? Man hätte es tun müssen, räumt Mögelin ein. Warum es nicht geschah, könne er nicht bewerten. Die E-Mails sind mittlerweile gelöscht. Christoph Meyer-Manoras, der zuständige Staatsanwalt aus Heilbronn, wird später als Zeuge nach Mögelin den Satz sagen: „Ich finde nicht, dass die privaten E-Mails von Frau Kiesewetter interessant gewesen wären.“ Er sprach sich damals gegen ein Rechtshilfeersuchen aus, um beim Account-Betreiber Yahoo an die E-Mails zu kommen.
„Haben Sie eine Vorstellung, was das Motiv für den Mord war?“, wird der Soko-Leiter gefragt. Er könne keines finden, erklärt Mögelin. Warum wurde bis 2010 das private Umfeld von Kiesewetter nicht überprüft? Es habe keinen Grund dafür gegeben. Und wie sieht er das heute? Der Kriminaloberrat schweigt. Denn heute weiß man mehr. Die Ausschusssitzung belegt das reichhaltig.
Davon ein paar Details: Wenige Tage nach der Tat äußerte der Patenonkel der Polizistin bei einer Vernehmung durch die Polizei, er könne sich vorstellen, dass es einen Zusammenhang mit der Mordserie an den türkischen und griechischen Männern gebe. Der Mann ist selber bei der Polizei tätig – im Staatsschutz.
Im Heimatort Kiesewetters, im thüringischen Oberweißbach, gibt es eine Gastwirtschaft, die von Leuten aus der rechten Szene besucht wird. Der Wirt ist der Schwager des Neonazis Ralf Wohlleben. Der sitzt in Haft, weil er für die Terrorgruppe Waffen besorgt haben soll.
Beamte der baden-württembergischen Polizei waren vor Jahren Mitglied in dem deutschen Ableger des rassistischen amerikanischen Geheimbunds Ku-Klux-Klan. Einer von ihnen war der Vorgesetzte der getöteten Beamtin.
Der Mord muss von mindestens zwei Tätern begangen worden sein. Berücksichtigt man aber alle glaubwürdigen Zeugenaussagen, waren vier oder sogar sechs Personen beteiligt. Es gibt noch sechs offene DNA-Spuren am Streifenwagen und an der Bekleidung des schwer verletzten Beamten.
Im Jahr 2004 kaufte der Thüringer Neonazi und V-Mann des Verfassungsschutzes, Tino Brandt, in Kochersteinsfeld, nur wenige Kilometer nördlich von Heilbronn, ein Haus. Es gehörte ihm bis 2008. Er soll aber nie darin gewohnt haben, sagen die Ermittler bis heute, so auch Axel Mögelin. Petra Pau, Abgeordnete der Linkspartei und Mitglied im Untersuchungsausschuss, will allerdings Informationen besitzen, nach denen Brandt doch in dem Haus gewohnt habe.
Stadtpläne in der NSU-Wohnung
Das Trio Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe war mindestens in den Jahren 2003 und 2004 im Raum Stuttgart, Ludwigsburg, Heilbronn unterwegs. Beate Zschäpe wurde beim Besuch des Ludwigsburger Schlosses fotografiert, vor dessen Renovierung. Von den zwei Männern gibt es auf einer CD Fotos, die sie in Stuttgart zeigen. Im Brandschutt der zerstörten Wohnung in Zwickau wurden Stadtpläne von Stuttgart und Heilbronn gefunden.
Im Dezember 2011 berichtete das Magazin Stern von einer nachrichtendienstlichen Observation am Tattag in Heilbronn. Daran sollen deutsche Verfassungsschützer und Vertreter des US-amerikanischen Militärgeheimdiensts DIA beteiligt gewesen sein. Auch danach fragt der Untersuchungsausschuss. Sie hätten keine objektiven Hinweise gefunden, dass das zutrifft, erklärt Soko-Leiter Mögelin. Aber es gebe noch offene Punkte. Zum Beispiel ein Fahrzeug, das am Tattag auf der Autobahn 6 geblitzt wurde. Wem gehörte das Auto? Im Rund sitzt auch ein Vertreter des Bundeskriminalamts, das in dem Fall noch ermittelt. Mögelin darf die Frage nicht beantworten. Nur so viel: Der Pkw gehörte einer amerikanischen Behörde. Was für eine Behörde?, hakt Christian Ströbele von den Grünen nach. Mögelin leise: Es war etwas Militärisches.
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