TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Alles ist Symptom

Von Hypochonder zu Hypochonder zu sprechen ist ein wenig wie beten. Es dient der Beruhigung. Nichts verschafft dem Hypochonder so viel Ruhe wie die Spiegelung seiner Angst in einem anderen. Tiefe Zufriedenheit ereilt ihn, wenn sein Gegenüber sich nicht bloß vor der kurz bevorstehenden Hirntumordiagnose fürchtet, sondern mit einer gleichzeitigen Multiple-Sklerose-Diagnose rechnet. Der Hypochonder verlässt sich nicht auf Gott, sondern nur darauf, dass er sich nicht wohlfühlt, wenn er sich wohlfühlt.

Seine einzige Zuversicht liegt im Fortschritt der Medizin, der ihn immerhin dahin gebracht hat, dass man Menschen wie ihm nicht mehr eine Therapie aus Aderlässen, Brech- und Abführkuren angedeihen lässt. Und weil dieser Fortschritt sein einziger Anker ist, betreibt er ein lebenslanges Zweitstudium, das ihn in den Ordinationen der Fachärzte zu einem gefürchteten Subjekt macht, dem nichts wahrer erscheint als das Misstrauen, das früher oder später im Leben richtig gewesen sein wird.

Alles Affektive gedeiht ihm zum Symptom des sezierbaren Körpers, dessen Entdeckung die wissenschaftliche Medizin bei gleichzeitiger Austreibung des Leibes bewerkstelligt hat. Milzsucht nannte die Schulmedizin einst die Hypochondrie und glaubte, die Gemütskrankheit rühre von der Milz her. Das gehört in die Geschichte der Medizin, und was kann es Schöneres geben für uns Hypochonder, als das nachzulesen in einem wunderbar aufbereiteten Coffeetable-Buch mit Bildtafeln aus der Kunst und Anatomie: „Die großen Entdeckungen in der Medizin“, erschienen bei Dumont, ist ein Mekka für alle, die sich stets aufs Neue einen kranken Körper designen und bestätigt wissen wollen, dass es immer Menschen gab, denen man nicht glaubte, was sie längst wussten: dass es immer neue Krankheiten zu entdecken gibt. Welch ein Trost für den Untröstlichen.

Die Autorin ist Redakteurin im taz-Kulturressort