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261 Minuten Verwirrung

Nichts ist wirklich, alles ist wahr: Das experimentelle Werk „Narziss und Psyche“ des ungarischen Regisseurs Gábor Bódys bricht mit filmischen Erzähltraditionen

Zwei Rivalen schweigen sich an: Udo Kier als László Tóth aka Narziss (rechts) und Freiherr von Zedlitz (György Cserhalmi) Foto: Foto:absolut Medien GmbH

Von Carolin Weidner

Eine Welt, die der unseren nur ähnelt, aber eigentlich ganz anders ist. In der die Menschen etwas mit den heutigen zu tun haben, aber auch seltsam entrückt sind. In der Liebesgeschichten aufhören und beginnen, um 100 Jahre zu überdauern. Sie spielen in Ungarn, aber auch in Österreich und Deutschland, in Europa. Der Film „Narziss und Psyche“ (1980) des ungarischen Regisseurs Gábor Bódy ist ein fantastisches Geflecht, magisch und unheimlich wie ein tiefer Wald, den es seit Urzeiten gibt.

Bódys vierstündiges Epos erzählt auch vom Heraustreten aus diesem Wald, hinein in das, was sich Moderne nennt. Die ersten Teile des Films sind archaischer Natur, Landstriche sind von Wesen besiedelt, die an Menschen erinnern. Es gibt Knechtschaften und Frondienste, das System ist feudal, es gibt Herrscher und Beherrschte. Im Zentrum steht eine Ménage-à-trois zwischen einer Frau, Erzsébet (Patricia Adriani), die auch Psyche genannt wird, und zwei Männern: László Tóth (Udo Kier), auch Narziss genannt, sowie sein der Aufklärung zugeneigter Rivale Freiherr von Zedlitz (György Cserhalmi).

„Narziss und Psyche“ basiert auf einer Gedichtsammlung des legendären ungarischen Schriftstellers Sándor Weöres (1913–1989) von 1972, in der real existierende und ausgedachte Figuren zusammen auftreten. Über die Verfilmung heißt es im Klappentext der DVD: Bódy entwarf „ein an der Schwelle zur Moderne spielendes, immens komplexes Kaleidoskop aus Leidenschaft, Machtpolitik, Wissenschaft und Bildalchemie.“

Weil es unmöglich ist, die Handlungsstränge akkurat zusammenzufassen, lohnt es sich eher, einzelne Szenen aufzugreifen, die teils in den großen, 120 Jahre umfassenden Zeitraum passen, aber häufig auch wie selbstverständlich über ihm schweben. Szenen, in denen es zu grausamen Operationen kommt, etwa ein Polyp aus einer Gebärmutter geschnitten oder Zähne ohne Betäubung gezogen werden. Oder wo Psyche an einem klavierartigen Tasteninstrument, auf das Kerzen tropfen, mit voller Inbrunst schrägste Töne anschlägt.

Der Film verlangt vom Zuschauer eigentlich nur eines: Hingabe. Wer ihn sieht und sich immerzu fragt, was gerade geschehen ist und wie es mit dem Vorherigen in Beziehung stehen könnte, verliert sich auf dem Weg durch diesen Traum. Man muss ihn geschehen lassen. Vielleicht ist dies auch der Trick, mit dem die drei erwähnten Personen durch die Zeitalter reisen, ohne auch nur im Geringsten zu altern.

Verschiedene Lesarten

Erzsébet Lóyay, die nicht nur Psyche, sondern auch mal Lidi heißt, ist eine Roma-Baronin mit melancholischem Blick und einer Mähne wie Kate Bush. In sie verlieben sich die Diplomaten und Aristokraten des ganzen Kontinents. Ihre wahre Liebe jedoch gilt László Ungvárnémeti Tóth, den der grell blondierte Kier mit einigem Wahnsinn mimt. Seine Figur ist keine Erfindung, tatsächlich hat ein solcher Mann gelebt. Er war ein ungarischer Dichter des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, der keine 40 Jahre alt wurde und sich in allerhand Disziplinen probierte, neben dem Dichtertum auch in der Medizin. Er starb an Cholera.

In „Narziss und Psyche“ ist es die Syphilis, unter der dieser beinahe unsterbliche Tóth dahinsiecht. Er begreift sich als vollendetes Individuum und möchte in Wissenschaft wie Poesie auftrumpfen, das Höchste vorlegen, zu dem ein Mensch je imstande war. Psyche gerät ihm, verheiratet mit dem Freiherr von Zedlitz (Györgie Cserhalmi), zur Muse und Gönnerin. Doch das ist nur eine Lesart der Geschichte. Man sollte sich aufmachen, neue zu suchen. Dass diese Neuzuwendung an Gábor Bódys überwältigendem Bildrausch überhaupt möglich ist, der sowohl auf visueller als auch auf tonaler Ebene dem Experiment huldigt, ist vor allem auch ein Verdienst von Kameramann István Hildebrandt. Unter seiner Aufsicht nahm das Ungarische Filmarchiv eine Rekonstruktion der Langfassung vor.

Auch die deutsche Untertitelung ist neu. Eine wesentliche Rolle nimmt Claus Löser ein, der die DVD gemeinsam mit Eszter Takács herausgegeben und „Narziss und Psyche“ für Samstag, 26. Januar, in der Brotfabrik programmiert hat. In seiner „kinematographischen Erinnerung“ sei Bódy „eine Konstante“. Die Vorführung einer anderen Fassung von „Narziss und Psyche“ kam durch ihn bereits im selbst gegründeten Filmclub in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) in den 80er Jahren zustande. Allen, die Lust haben auf neue ästehtische Erfahrungen, sei empfohlen, sich auf den Weg nach Weißensee zu machen. Denn der Avantgardeklassiker ist eine außergewöhnliche Verabreichung formal und inhaltlich überbordender Filmkunst.

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