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Streunerin durchs Unterholz

Zum Tod der US-amerikanischen Lyrikerin Mary Oliver

Von Anne-Sophie Balzer

Um in dieser Welt leben zu können, müsse man drei Dinge können, schrieb die Lyrikerin Mary Oliver in ihrem Gedicht „In Blackwater Woods“: alles Sterbliche lieben; es festhalten, als würde das eigene Leben davon abhängen; und wenn die Zeit gekommen sei, es wieder gehen zu lassen. To let it go, to let it go.

Am Donnerstag ist die amerikanische Dichterin im Alter von 83 Jahren in ihrem Haus in Florida gestorben. Oliver gewann zahlreiche Preise, unter anderem den Pulitzerpreis und den National Book Award. Zudem wurde sie – ungewöhnlich für eine Dichterin – von einem breiten Publikum in den USA verehrt, viele ihrer Gedichtbände waren Bestseller.

Mary Oliver wuchs in einem Vorort von Cleve­land, Ohio auf. Ihre Kindheit beschrieb sie als schwierig, ihre Familie als dysfunktional. In einem ihrer raren Interviews bekannte sie, von einem nahen Verwandten sexuell missbraucht worden zu sein. Bereits als Kind stahl Oliver sich zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Haus hinaus in den Wald. Erst die Natur, später ihre Bücher und schließlich das eigene Schrei­ben dienten Oliver zur Krisenbewältigung. Die große Anteilnahme, mit der Menschen in so­zialen Medien nun auf ihren Tod reagierten, legt nahe, dass Olivers Arbeit Trost und Linderung auch ihren Leser*innen verschaffte. Vielleicht gerade weil Menschen darin meist randständige Beobachter*innen bleiben.

Held*innen ihrer Gedichte sind stattdessen Schildkröten, Eulen, Füchse, Frösche, Wildgänse oder im Regen sprießende Pilze. Nahezu all ihre Gedichte und Essays, die nie ins Deutsche übersetzt wurden, handeln von Flora und Fauna. Der Ort des Geschehens ist meist ein Tümpel oder Wäldchen in Olivers langjähriger Heimat Provincetown im US-Bundesstaat Massachusetts, wo sie mehr als vierzig Jahre lang mit der Fotografin Molly Malone Cook lebte.

Olivers literarische Liebe galt den amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und den Dichtern William Wordsworth, Robert Frost und Walt Whitman. Vielen ihrer Vorbilder widmete sie Essays. Häufig wurde Oliver mit Emily Dickinson verglichen, mit der sie die Vorliebe für Einsamkeit, innere Monologe und ungewöhnliche Metrik teilte.

In Olivers Gedichten streunt die Erzählerin meist in Begleitung ihres Hundes als teilnehmende Beobachterin durchs Dickicht, geleitet von dem Wunsch, sich ganz in der natürlichen Welt aufzulösen. Mal kriecht sie tief im Wald auf allen vieren durchs Unterholz, um die Welt aus der Perspektive der Baumsprösslinge, der Gräser und Erdklumpen zu sehen und zu riechen. Mal hängt sie am Bauch einer Katze und kostet von deren Milch. Oliver schreibt nicht nur, sie reflektiert stetig ihren Schreibprozess, die eigenen damit verbundenen oder vom Genre diktierten Ansprüche oder die Erwartungen ihrer Leser*innen.

In den amerikanischen Feuilletons und Kulturredaktionen fanden nicht alle Gefallen an Olivers ­Lyrik. Kritik musste sie sich etwa von Femi­nis­t*innen gefallen lassen, die Oliver vorwarfen, die Beziehung zwischen Natur und Frau zu verklären. Sie schicke ihre Lese­r*in­nen auf eine falsche Fährte, indem sie die Identifi­zierung mit allem Natürlichen als empow­ernd darstelle, lautete etwa einer dieser Kritikpunkte.

Ob Oliver selbst eine feministische Agenda hatte, ist fraglich. In ihren Gedichten spielt das Geschlecht des Be­ob­ach­tenden keine Rolle. Es ist stets nur Mensch, nicht im Sinne einer Auflösung von Geschlechtergrenzen, sondern von Grenzen zwischen allem, was wächst, kreucht, fleucht oder mit dem SUV durch den Wald brettert. „Wenn wir unsere Beziehung zur Natur verlieren, vergessen wir, dass wir sie brauchen, dass auch wir Tiere sind“, sagte Oliver in einem Interview. Den Wert ihrer Arbeit sieht sie darin, die Menschen daran zu erinnern, wie die Erde einmal ausgesehen hat.

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