: Der Tiefsee die Zukunft
Reine Konzertabende sind für das Kollektiv subwater beats aus Dresden und Berlin uninteressant. Das SurfF-Festival im Petersburg Art Space in Moabit spricht deshalb sämtliche Sinnesebenen an – mit Musik, Licht, Figurentheater, Tanz und Diskussionen
Von Franziska Buhre
Manchen Berliner Innovatoren erging es zu Lebzeiten leidlich. Otto Lilienthal leistete zwar Vorarbeit für den Bau flugfähiger Apparate, verstarb jedoch nach einer Bruchlandung, das Bioskop der Berliner Brüder Skladanowsky war dem Kinematogrfenh der Brüder Lumière aus Paris unterlegen, und der Dadaistin Hannah Höch wurde erst nach ihrem Tod internationale Aufmerksamkeit zuteil.
Der Gitarrist Joachim Wespel ist zwar noch kein Berliner, seine Erfindung bringt er hier trotzdem schon unter Menschen, die gerne Veranstaltungen für Ohr, Herz und Geist besuchen. In der Theorie passen Wespels „Multiple Dimension Beats“ auf eine DIN-A4-Seite. Das Konzept beinhaltet rhythmisch komplexe Vorgehensweisen, die Musiker_innen auf mehreren Ebenen in der Improvisation und beim Komponieren anwenden können. In der Praxis aber, sagt Wespel im Gespräch sehr freimütig, gelte: „In meinem Leben werde ich niemals können, was ich mir da ausgedacht habe. Es ist eher ein zukünftiges System, wie man miteinander improvisieren und über Jazz nachdenken kann.“
An der Ausarbeitung gefeilt hat Wespel in den letzten Jahren in Dresden, wohin der Sohn eines Allgäuer Milchbauernpaars 2008 zum Musikstudium zog. Gemeinsam mit dem Saxofonisten Paul Berberich und dem Schlagzeuger Florian Lauer gründete er das Bandkollektiv Zur Schönen Aussicht, das aus Anlass der stolzen Dekade seines Bestehens in Berlin andere Musiker_innenkollektive zum SurfF-Festival lädt. Reichlich Erfahrungen in der Organisation von Veranstaltungen zum Vergnügen eines diversen und begeisterungswilligen Publikums haben die drei seit 2016 mit dem Festival „Kulturrabazzz“ gemacht. Es findet statt im alternativen Dresdner Wohnprojekt und Kulturverein Kukulida.
Coole Atmosphäre
Wespel hat als Bewohner angefangen, sich zu engagieren: „Dort zu leben hat alles beeinflusst, was ich mache. Wir haben geschafft, junge Leute für diese Art von Musik zu begeistern. Das klappt am besten, wenn man interdisziplinär arbeitet. Mit Visuals, einem Puppenspieler, Objekttheater und politischen Diskussionen zum Beispiel schaffen wir einen coolen Vibe, den findet man im Jazzclub nicht. Das ist ein großes Problem, über das man nachdenken sollte. Wir geben eine mögliche Antwort darauf, wie man damit umgehen kann.“ Der Bühnenbildner Markus Pötter ist von Anfang an mit im Boot, er wird auch den Raum im Berliner Petersburg Art Space gestalten. Außerdem sorgt das Lichtkollektiv Dunkelstrom für Visual Arts und die adäquate Beleuchtung.
Das Line-up kann sich sehen lassen, wer die gegenwärtig spannendsten Improvisator_innen der Stadt in letzter Zeit verpasst hat, kann die Reserven an staunenswerten Klängen hier weder auffüllen. Auch auswärtige Gäste sind Teil des Programms: Das Trio des Keyboarders Dan Nicholls aus London setzt auf eine Mischung aus Post-Rock und ekstatischen Grooves in Hochgeschwindigkeit, das Duo Future Bash, das eine Konzertreihe im Zukunft am Ostkreuz veranstaltet, steht gemeinsam mit der Hamburger Saxofonistin Anna-Lena Schnabel, der Kölner Cellistin Elisabeth Coudoux und der Sängerin Ayse Cansu Tanrikulu auf der Bühne.
Die Keyboarderin Liz Kosack präsentiert im Trio verlockend verschrobenen Jazzrock mit psychedelischen Anklängen, die Beatboxerin Sanni Lötzsch zeigt an zwei Abenden diverse Facetten mundgemachter elektronischer Musik, Neosoul und Hiphop auf. Soul für die Zukunft performt auch die Sängerin Christine Seraphin mit ihrer Band Seraleez. Trotzdem gibt es ein Ungleichgewicht im Verhältnis von Musikerinnen zu Musikern beim Festival, dessen ist Joachim Wespel sich auch bewusst: „Ja, beim Geschlechterverhältnis haben wir kläglich versagt. Es ist unser aller Aufgabe, Bands von und mit Frauen ausfindig zu machen. Damit meine ich auch die anderen Berliner Kollektive, die wir einladen. Wir wollen selbstkritisch über dieses Thema reden.“
Lernen, wie es besser geht, können Interessierte immerhin beim Gespräch mit der Dresdner Veranstalterin Ulla Heinrich, die mit dem queerfeministischen Konzertkollektiv „böse & gemein“ Punkmusikerinnen an vorderste Bühnenrampen bringt. Ein 20-köpfiger Frauenchor unter Leitung von Anna Bolz und weitere Specials mit Sängerinnen und Tänzerinnen können den anwesenden Alpha-Improvisatoren zeigen, dass die Präsenz von Frauen bei einem Festival kein Beiwerk, sondern in jeder Hinsicht belebend ist und auch für ein gemischtes Publikum sorgt.
Mit der Eigendarstellung des Festivals gehen einige schillernde Begriffe einher. Zur Schönen Aussicht bezeichnen ihre Musik, inspiriert von den Überlegungen des Philosophen Armen Avanessian, der sich am 23. Januar höchstselbst zum Gespräch einfindet, als Postcontemporary Jazz. „SurfF“ ist eine Variante von „subwater beats“, einer Wortschöpfung von Joachim Wespel, unter der das organisierende Kollektiv aus Dresden und Berlin firmiert. „Das ist mit Absicht ein Kunstwort“, so Wespel. „Bildlich steht es für die Musik, die wir machen. Trotz allem Gefrickel sind wir auch sphärisch und erweitern unser Spektrum mit Beats aus Techno oder Hiphop, die es in der improvisierten Musik eigentlich gar nicht gibt. Mich reizt der Gedanke, dass die Tiefsee weniger erforscht ist als das Weltall.“ Subwater ist demnach ein Synonym für das unbekannte Terrain, das die Musiker_innen beim Surfen auf diversen Wellen ausforschen.
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