berliner szenen: Sirenen hinter der Salattheke
In meinem Supermarkt ist es nicht einfach. Dabei ist er gut erreichbar, er hat sogar einen U-Bahn-Anschluss, das Angebot ist riesig, die Preise sind gut, es gibt ausgefallene Produkte aus Indien, Russland, aus der Schweiz. Hier zeigt sich der Marktradikalismus auf Leistungshöhe, mehr ist nicht zu erwarten. Ich kann hier sogar den Kapitalismus verachten, denn es gibt all das, was dem Großteil der Menschheit verwehrt ist. Gehe ich deshalb immer mit hoch gezogenen Schultern in den Supermarkt?
Nein. Auch die, die Befreiung wollen, müssen in Supermärkte, es gibt in der Hauptstadt ja sonst nichts, und der Revolutionär ist vor der Kasse genauso aufgeschmissen wie überall sonst. Das also ist die alltägliche Demütigung, und man gewöhnt sich an sie, ja, wenn sie einmal fehlt, wird man sie sogar vermissen. Sicher wird der menschliche Mensch in Berlin eines Tages im ewigen Anstehen an der Kasse eine Tradition sehen, auf die er ein Anrecht hat. Dann wenn selbstfahrende Busse ihn freundlich mit einer Automatenstimme begrüßen oder Roboterkassen selbst dann einen „schönen Abend“ wünschen, wenn man eine halbe Stunde nach Kleingeld oder seiner PIN gesucht hat.
Das ist es nicht, was mich in meinem Supermarkt beugt. Es ist: eine Salattheke, hinter der Sirenen stehen, Sirenen aus der Odyssee, die Lockrufe aussenden. „Hallo“, wispern sie, „hallo, unsere neue Olivencreme, möchten Sie probieren?“ Und, ja, ich möchte, Salate, Wasabi-Krabben-Mix, es ist wunderbar. Doch ich weiß: 100 Gramm kosten 2 Euro, das „kleine Töpfchen“ dann aber 21 Euro, es ist zum Heulen. Und hat man probiert, kann man sich nicht wehren, „ja, davon bitte auch noch ein wenig“. Schon ist man ruiniert. Daher tarnt man sich, bis man an den Sirenen vorbei ist – ich habe einen älteren Herrn schon mit seinem Einkaufswagen rennen sehen. Jörg Sundermeier
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