Die Verlassenen von Sindschar

Die Orte der Jesiden sind vom Krieg gegen den IS gezeichnet. Tausende Frauen und Kinder wurden vor vier Jahren verschleppt. Jesidische Schmuggler bemühen sich um ihre Befreiung

Die Distrikthauptstadt Sindschar im Nordirak nahe der syrischen Grenze hatte einmal rund 40.000 Einwohner, größtenteils Jesiden. Heute, mehr als drei Jahre nach der Befreiung von der einjährigen Herrschaft des „Islamischen Staats“, sind immer noch weite Teile zerstört. Manche Gebiete haben weder Strom noch Wasser, und einige Viertel sind noch nicht von gefährlichen Blindgängern geräumt. Bis zu 10.000 Menschen aus Sindschar sollen nach Angaben des Bürgermeisters verschwunden sein. Bisher fand man bei Sindschar ein Massengrab mit den Leichen von 78 jesidischen Frauen. Sindschar lag an einer Hauptstraße, die die damaligen IS-Hochburgen in Mossul im Irak und Rakka in Syrien verbindet. Auch diese beiden Städte sind inzwischen nicht mehr in der Hand des „Islamischen Staats“, der aber immer noch kleinere Regionen in Syrien besetzt hält. In diesen Gebieten werden die meisten der entführten Jesidinnen vermutet. Fotos: André Liohn/Prospekt

Hassan Suleiman Ismail in der Schule des jesidischen Dorfs Kodscho. Früher hat er dort als Lehrer gearbeitet. Im August 2014 ermordeten IS-Terroristen dort alle Männer und älteren Frauen und verscharrte die etwa 600 Leichen in Massengräbern. Die Kinder und jüngeren Frauen wurden entführt, die Frauen als Sexsklavinnen verkauft, die männlichen Kinder zu Kämpfern ausgebildet. Ismail lebt heute in einen Nachbarort von Kodscho und arbeitet als Menschenschmuggler. Er bemüht sich darum, die nach Syrien Verschleppten nach Hause zu bringen.

Asia ist 14 Jahre alt. Im August 2014 war sie vom IS zusammen mit ihrer Schwester aus der Sindschar-Region entführt worden. Sie wurde an fünf verschiedene Männer verkauft und schließlich nach fast vier Jahren in den Händen der Islamisten freigelassen. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Vater am Rande der nordirakischen Großstadt Dohuk in einem Flüchtlingslager. Das Bild zeigt sie in einem jesidischen Heiligtum. Ihre ältere Schwester ist vermutlich immer noch Gefangene des „Islamischen Staats“ in Syrien.

Im Flüchtlingslager von Sardasht im Nordirak. Viele der hier lebenden Jesiden flohen im August 2014 vor den angreifenden Kämpfern des „Islamischen Staats“ in die Sindschar-Berge. Nach tagelanger Belagerung bei eisigen Temperaturen, ohne ausreichende Versorgung und medizinische Betreuung, gelang es ihnen dank US-amerikanischer Unterstützung, in die unbesetzten kurdischen Gebiete des Irak auszubrechen.

Schireen Schivan und Mahmoud Shingal in der nordirakischen Stadt Sindschar, nicht weit von der Grenze zu Syrien entfernt. Sie sind Jesiden. Beide versuchen, von den Terroristen des „Islamischen Staats“ nach Syrien entführte Frauen und Kinder zurückzuholen. Über die Details ihrer Arbeit sprechen die Schmuggler nicht gern. Offenbar werden manche Entführten gegen Lösegeldzahlungen an ihre „Besitzer“ freigekauft. Danach müssen sie über Frontlinien und die syrisch-irakische Grenze gebracht werden.

Die Bevölkerung Die etwa 800.000 Jesiden gehören zur Volksgruppe der Kurden. Sie sind jedoch keine Muslime, sondern bilden eine eigene Religionsgemeinschaft. Die Heimat der meisten Jesiden ist der Nordirak. Dort befindet sich nördlich von Mossul auch ihr religiöses Heiligtum, Lalisch.

Die Religion Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln bis 2.000 Jahre vor Christus zurückreichen. Sie nahm Glaubenselemente westiranischer und altmesopotamischer Religionen sowie von Juden, Christen und Muslimen auf. Jeside wird man ausschließlich durch Geburt. Niemand kann übertreten. Bei Ehen mit Nicht-Jesiden verlieren Gläubige ihre Religionszugehörigkeit.

Die Verfolgung In vielen Ländern werden Jesiden verfolgt. Viele Muslime sehen die Gemeinschaft als Sekte und ihre Mitglieder als "Teufelsanbeter" an.

Die Gewalt des IS Die Gewalt der sunnitischen Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gegen Jesiden im Nordirak löste weltweit Entsetzen aus. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte wirft dem IS Völkermord an den Jesiden vor. Tausende Frauen und Mädchen wurden als Sexsklavinnen verschleppt. (epd/taz)

Der Fotograf

Der Fotograf der Bildserie hat sich als Krisen- und Kriegsreporter international einen Namen gemacht. André Liohn hat in Krisenregionen fotografiert, darunter in Somalia und Syrien. Er erhielt viele Preise, unter anderem wurde Liohn 2011 für eine Arbeit in Libyen mit der Robert-Capa-Goldmedaille ausgezeichnet. Der 44-Jährige ist gebürtiger Brasilianer und lebte lange in Norwegen, wohnt aber inzwischen wieder in seinem Geburtsland. Mit dem Fotografieren begann er erst im Alter von 30 Jahren. Davor besaß er lediglich eine Kodak Instamatic. (taz)

Von André Liohn