das jahr in berlin
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Was für ein Jahr: Eine Neuköllner Bezirkspolitikerin wird Bundesministerin – und macht sich gut. Gut macht sich auch die taz in einem neuen Haus. Erfreulich auch: Die BerlinerInnen gehen wieder gern für gute Sachen demonstrieren. Weniger gut: Das Gedenken an die Novemberrevolution sollte sich auch der Frage widmen, wie aus einer Republik eine Diktatur werden konnte

Demo­hauptstadt Berlin

Teilnehmerzahlen der Demos steigen

Als die Spitze der Demonstration das Ziel der Route in der Straße des 17. Juni erreichte, hatte sich das Ende am Startpunkt Alexanderplatz noch nicht einmal in Bewegung gesetzt. Auf 242.000 Menschen bezifferten die Veranstalter der Unteilbar-Demonstration am 13. Oktober schließlich die Teilnehmerzahl, und das schien kaum übertrieben. Mit einer so hohen Zahl hatten selbst die Organisatoren nicht gerechnet.

Dabei hatte es Anzeichen gegeben, dass diese Demonstration groß werden könnte, sehr groß. Denn 2018 ging plötzlich wieder etwas auf den Straßen Berlins: Mindestens 20.000 Menschen kamen im April zur Mietendemo, Ende Mai verwandelte sich dann die halbe Innenstadt in eine Anti-AfD-Protestzone, die die offizielle Zahl von 25.000 Teilnehmern stark untertrieben erscheinen ließ. Und selbst wenn es auf der Seebrücken-Demonstration Anfang Juli vielleicht etwas weniger waren als die von den Veranstaltern gezählten 12.000 Teilnehmer, war auch hier der Mobilisierungserfolg angesichts eines sehr kurzen zeitlichen Vorlaufs beachtlich.

Das ist bemerkenswert, war Berlin in den letzten Jahren in Sachen Straßenprotest doch eher von einer Flaute geprägt. Die Gründe dafür, warum sich das Blatt jetzt gewendet hat, sind natürlich nicht nur berlinspezifisch: Der Einzug der AfD in den Bundestag, so wenig überraschend er auch war, mag trotzdem bei vielen das Gefühl ausgelöst haben, jetzt wirklich Haltung zeigen zu müssen. Auch ein permanent Empörungs­steilvorlagen liefernder Horst Seehofer als Innenminister ist als Mobilisierungsfaktor nicht zu unterschätzen, ebenso wenig wie sein rechtes Pendant in Italien, Matteo Salvini, der seit Sommer für die dramatische Zuspitzung der Situation auf dem Mittelmeer sorgt.

Trotzdem: Es scheint, als gehöre es für viele Berliner wieder ganz selbstverständlich zum Berlinersein dazu, auch auf der Straße Haltung zu zeigen. Dass Clubkultur und Protestkultur in diesem Jahr auf der Straße zusammenfanden, hat dabei einen großen Anteil. Berlin, Hauptstadt des Feierns und Demonstrierens – das ist nicht der schlechteste Gegenentwurf zur AfD. Malene Gürgen

Es scheint, als gehöre es für viele Berliner wieder ganz selbstver­ständ­lich zum Berlinersein dazu, auch auf der Straße Haltung zu zeigen

Malene Gürgen über wachsende Zahlen der Demonstrationsteilnehmer

Das dicke Ende kommt erst noch

Zum Erinnern an 100 Jahre Revolution

Erstaunliches ist passiert im geschichtspolitischen Jahr 2018. Hundert Jahre nach Beginn der Novemberrevolution reden die einst verfeindeten Lager miteinander, als habe es weder den sozialdemokratischen Bluthund Zörgiebel noch die Leichen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegeben. Als ein Vertreter der Rosa-Luxemburg- und der Friedrich-Ebert-Stiftung in der taz zusammensaßen, um über die Revolution und ihre Folgen zu sprechen, war die Atmosphäre sachlich und kollegial. Noch im Kalten Krieg dagegen war die Revolution ein Gradmesser dafür, wo man politisch stand.

Aber natürlich stehen heute andere Fragen im Vordergrund. In seiner Rede zum 9. November im Bundestag hat sie ­Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angesprochen: „Wie konnte es sein, dass dieses selbe Volk innerhalb weniger Jahre in demokratischen Wahlen den Demokratiefeinden zur Mehrheit verhalf; seine europäischen Nachbarn mit Krieg und Vernichtung überzog?“

Ja, wie konnte das sein? Schön wäre es, wenn es Anfang kommenden Jahres darauf einige Antworten oder zumindest Debatten dazu gäbe. Denn im Januar jährt sich nicht nur der angebliche Spartakusaufstand, der blutig niedergeschlagen wurde und zur Verlegung der Nationalversammlung nach Weimar führte. Auch die Wahl zur Na­tio­nal­ver­sam­mlung ist ein wichtiger Meilenstein bei der Beantwortung der Frage, wie aus einer Republik eine Diktatur werden konnte. Am 19. Januar 1919 hatten die Parteien, die die Weimarer Republik trugen, noch die Mehrheit gehabt, ein Jahr später haben sie sie verloren. Es wird also nicht reichen, anlässlich 100 Jahre Novemberrevolution nur die positive Seite, das Ende der Monarchie und den Beginn der parlamentarischen Demokratie, zu feiern. Reden wir auch über ihre Feinde. Die damals und die heute. Uwe Rada

Handfest und lebensklug

Franziska Giffey macht sich als Ministerin gut

Der Sprung vom Bezirk in die Bundespolitik hätte auch zu weit sein können. Aber das war er für Franziska Giffey nicht. Das Anforderungsprofil „Frau aus dem Osten“ beförderte die Neuköllner Bezirksbürgermeisterin im Frühjahr überraschend ins Familienministerium – jetzt gilt sie als Aktivposten in der Regierung. Je steiler es mit der SPD bergab geht, desto erfreulicher wirkt Giffey.

Ihr Erfolg verdankt sich auch drei günstigen Umständen. Sie ist erstens nicht Andrea Nahles, die ewige Parteifrau, die so irritierend zwischen elastischer Machtpolitik und altertümlich dampfender Parteitagsrede schwankt. Die Stelle der sympathischen, bodenständigen Sozialdemokratin war also vakant. Außerdem hat Giffey das Glück, mehr als 5 Milliarden für Kitas verteilen zu können – damit macht man sich auch nicht unbeliebt. Drittens: Die Vergangenheit in Neukölln ist in Zeiten, in denen ProfipolitikerInnen als glatt und karriereorientiert verachtet werden, nicht Unerfahrenheitsmalus, sondern street credibility.

Die Frankfurterin mit der leisen Stimme, dem Berliner Idiom, der altmodischen Hochsteckfrisur passt, gerade weil sie nicht perfekt wirkt, perfekt zu der Sehnsucht nach PolitikerInnen, die anders sind: eckig, handfest.

Etwas vorsichtiger muss sie mit sozialen Medien umgehen. In Neukölln war die Omnipräsenz auf Facebook ein brauchbares Mittel, um Leute zu erreichen, die keine Ahnung von Politik hatten. Im Bund wirkt es nervig oder egozentrisch, jedes Bild zu posten, auf dem die Ministerin umrahmt von Schulkindern in die Kamera lächelt. Auch vor fragwürdigen Weihnachtsgeschenktipps („Socken gehen immer“) sei gewarnt.

Das zentrale Verdienst von Franziska Giffey aber ist, dass sie der Buschkowsky-Falle entgangen ist. Heinz Buschkowsky war ihr Vorgänger und Förderer – doch während er Multikulti und Neukölln miesmacht, verlegt Giffey sich darauf, Dinge besser zu machen. Ein Beispiel für diese erfreuliche Ideologieferne war der Burkinistreit, eine jener steilen Symboldebatten, die Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten leiten. Eine Schule hatte Burkinis besorgt, damit alle Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen. Eine CDU-Politikerin geißelte das als „vorauseilenden Gehorsam vor Fundamentalisten“. Giffey twitterte, Burkinis für kleine Mädchen seien problematisch. Allerdings habe sie erlebt, „was es bedeutet, wenn ein kleines Mädchen ertrunken ist, das nicht schwimmen konnte“. Das Vermitteln einer Überlebenstechnik sei „wichtiger als die Badekleidung“. Eine erfreulich lebenskluge Anmerkung. Stefan Reinecke

Was ein neues Haus verändert

Die taz kommt nun aus der Friedrichstraße

Das Poster mit den unscharfen Booten, auf dem keiner was erkennt, ist mitgekommen; einige krakelige Kinderzeichnungen auch; dazu die uralte Zeitungspappente (ein Geschenk unbekannter Herkunft) und sogar das Sofa in Rot-Grün-Abgenutzt. Sie vermitteln Vertrautheit hier in der neuen taz-berlin-Redaktion in der Friedrichstraße 21.

Die taz hat ihr neues Haus Anfang November bezogen. Wer Kulissen für eine TV-Serie über Berliner Journalisten sucht, findet hier im Nordostflügel der zweiten Etage fast das Klischee eines Redaktionsraums: eine weite durchgehende Bürofläche, die für die Größe und die Bedeutung des Berufs steht; strenge graue Sichtbetonstreben, die die Härte der Stadt und der von den Journalisten zu recherchierenden Storys verkörpern; dazu der Blick durch die komplett in Glas gehaltene Fassade auf die böse Konkurrenz, vor allem aber auf den Fernsehturm, der je nach Wetterlaune leuchtet oder im Nebel verschwindet. Und davor ein kleiner Park, der diesen Namen mangels Grün (noch) nicht verdient. „Journalists of Berlin“ würde Netflix das vielleicht nennen.

Inzwischen haben die Redakteurinnen und Redakteure mit taz-bekannter Kreativität der grauen Halle mit grauem Boden und grauen Möbeln die Architektenattitüden weitgehend ausgetrieben. Neben den Relikten aus der Dutschkestraße recken sich Pflanzen dem Tageslicht entgegen; die metallenen Schallschutzwände lassen sich prima hinter historischen Plakaten („Arbeiter! Taz lesen!! Taz-Leser! Arbeiten!!“), Kalendern und Dienstplänen verstecken.

Der Umzug in das neue Haus hat uns das ganze Jahr hindurch beschäftigt, obwohl die neue Adresse nur wenige Hundert Meter entfernt von der alten in der Dutschkestraße ist. Denn natürlich ist in der BER-Stadt auch unser Eröffnungstermin mehrfach verschoben worden; ursprünglich war Ende Juni angepeilt. Und nicht jede/r war glücklich über den neuen Arbeitsplatz. Dazu ist die Akustik so präzise, dass manche nur noch flüstern.

Arbeiten fühlt sich im neuen Haus anders an: größer, moderner, gegenwärtiger, weil alles nicht mehr so charmant wie schmuddelig improvisiert wirkt wie im bisherigen Altbau. Dadurch aber auch kälter, distanzierter, professioneller. Man meint den Epochenwandel weg vom Print, vom Papier, vom täglichen Begleiter, hin zum digitalen omnipräsenten „Produkt“ zu spüren. Gleichzeitig vermitteln die massiven Betonstelen auch Sicherheit im turbulenten Medienmarkt. Zwei Monate sind vergangen hier am düsteren Ende der Glamourmeile. Viele aufregende Jahre kommen noch. Bert Schulz