Der König im Affenstall

Kino der Kindheit (6): Mit dem „Dschungelbuch“ kam die erste Sucht ins Leben

An das Kino, in dem ich meinen ersten Film gesehen habe, kann ich mich kaum erinnern, wohl aber an das Erlebnis. Das nämlich war mit gemischten Gefühlen verbunden. Wir sahen Buster Keatons „General“. Mein großer Bruder, damals im Abiturientenalter, führte seine drei kleinen Geschwister, wir alle noch Grundschüler, aus. Voller Euphorie waren wir aufgebrochen, denn eine Unternehmung mit dem großen Bruder versprach den Anschluss an das aufregende Draußen, von dem man sich als Kind so oft abgeschirmt sieht. Wir wollten in die Gegenwart mitgenommen werden – und landeten in einem Stummfilm in Schwarzweiß! Innerlich blickte ich zum ersten Mal quasi von oben herab auf den Bruder: Ich wusste wenig über die Welt, aber genug, um zu begreifen, dass dieser Film eine olle Kamelle war.

Mit dem nächsten Film wurde es besser. Das war der „Krieg der Knöpfe“, der zwar auch schwarzweiß war, aber von Kindern handelte. Sonst weiß ich nur noch, dass es ein französischer Film war, dass wir viel gelacht haben und am Ende eine gute Botschaft stand. Die war der Grund dafür, dass wir das Kino wieder mit gemischten Gefühlen verließen: Man hatte uns hier nicht nur zum Vergnügen, sondern auch zur Belehrung hingeschickt.

Erst beim dritten Mal war es Liebe. Bezeichnenderweise habe ich das eigentliche Seherlebnis komplett vergessen, erinnere mich aber, dass ich vollkommen überwältigt war. Dieser Film hatte alles, was die weite Welt an Begehrenswertem bot: Er war bunt, gezeichnet, mit Musik und Tieren – „Das Dschungelbuch“! Wahrscheinlich habe nie wieder einen Film so sehr geliebt.

Mit dem „Dschungelbuch“ kam die Sucht in mein Leben. Der Film löste das unstillbare Bedürfnis nach wiederholtem Sehen aus. Er war mit keinen guten Absichten verbunden, und meine Eltern hielten ihn offenbar für einen Genuss wie Coca-Cola, der nur in kontrollierter Dosis zuzulassen war. Ich litt unter dem Entzug. Immerhin gab es bereits Ersatzdrogen: Figuren aus Hartplastik und die Langspielplatte zum Film. Seltsamerweise ist davon im Haushalt meiner Mutter, sonst eine vorbildliche Hüterin auch der unnützen Dinge, nichts zurückgeblieben. Wenn heute unter den Geschwistern die Sprache darauf kommt, beschuldigen wir uns gegenseitig scherzhaft der Unterschlagung, doch wer genau hinhört, erkennt Untertöne echter Verbitterung.

Das kollektive Erinnern versöhnt uns allerdings schnell wieder. Die Platte haben wir so oft gehört, dass auch nach 30 Jahren ein Wort genügt, um den Memoiren-Fluss in Gang zu bringen. So kann ich meinem Bruder ein entrücktes Lächeln entlocken, sobald ich anstimme: „Ich bin der König im Affenstall …“ Seiner Versonnenheit sehe ich an, dass er nicht meine Stimme hört, sondern die von Klaus Havenstein. Er war immer ein großer Fan des Synchronsprechers, Sportreporters und Kabarettisten.

Irgendwann in den 80er-Jahren erzählte mir meine Schwester, dass sie ihrem Sohn das „Dschungelbuch“-Video kaufen wolle. Ich erkannte den Neid nicht sofort. Während ich mit ihr noch klug erörterte, ob die Verfügbarkeit über einen solchen Schatz nicht den „Spaß verderbe“, fühlte ich blinde Eifersucht auf meinen Neffen in mir aufsteigen: Der sollte sich nun so einfach satt sehen können!

Heute frage ich mich, wann dieser Gedanke des „Verderbens“ durch Wiederholung eigentlich aufkam und ob mehr als das typisch protestantische Konzept des Erhungerns von Appetit dahinter steht. Es will mir nämlich immer weniger einleuchten. Den „General“ zum Beispiel habe ich seither ungezählte Male wieder gesehen, und das Vergnügen hat sich immer nur gesteigert.

BARBARA SCHWEIZERHOF