„Von Mythen beeinflusst“

Western revisited: In seinem neuen Film „Don’t Come Knocking“ schickt Wim Wenders einen müde gewordenen Cowboy-Darsteller auf den Selbsterkenntnistrip. Ein Gespräch mit dem Regisseur

INTERVIEW ANKE LEWEKE

taz: Herr Wenders, Ihr neuer Film beginnt mit einer Flucht. Der Held, ein in die Jahre gekommener Westernstar, reitet von den Dreharbeiten weg und streift sein Cowboy-Outfit ab. Was genau lässt er zurück?

Wim Wenders: Er lässt sein ganzes Leben hinter sich, das er bis dahin recht gedankenlos gelebt hat. Der Westernheld darf ja immer schön durch die Weltgeschichte und in den Sonnenaufgang reiten. Dieser Illusion der unbegrenzten Möglichkeiten ist er auch ein bisschen aufgesessen. Und irgendwann merkt er, dass diese Freiheit, die er gespielt hat, und dieses Heldentum überhaupt nichts mit seinem Leben zu tun haben. Er merkt also, dass er etwas verpasst hat, und reitet in der Hoffnung davon, doch noch einen Zipfel davon einzuholen.

Andererseits ermöglicht Ihnen dieser angeschlagene Westernheld, die Weite der amerikanischen Landschaft zu feiern – ohne jeden Ideologieverdacht und in großartigen Tableaus.

Wir haben uns den Luxus gegönnt, die ganzen wunderbaren Ingredienzen eines Westerns zu nehmen: diese traumhaften Landschaften in Utah, Nevada und Montana. Die Pferde und die Sporen, den blauen Himmel und die roten Felsen. Und doch erzählen wir etwas ganz anderes. Nämlich von der traurigen Wirklichkeit, die sich heute hinter dieser Ideologie, diesem Mythos verbirgt.

In Ihrem Essay „The American Dream“ beschrieben sie schon 1984 die Diskrepanz zwischen dem Bild, das Amerika von sich vermittelt, und der Realität, die man vorfindet. Was hat sich seitdem geändert?

In diesem Land leben heute noch Leute, die immer noch von all diesen Mythen beeinflusst sind. Deren Leben in die Brüche geht, weil sie zu lange an das Kino und all die anderen Bilder geglaubt haben. Und an den Helden. Es gibt zu viele Männer wie meinen Filmhelden Howard Spence. Männer, die konfliktunfähig sind und die lieber davonreiten, als sich einer Verantwortung zu stellen. Es gibt auch zu viele allein erziehende Frauen. Wenn ich in dem Café in Butte, Montana, wo wir gedreht haben, eine Familie mit Vater, Mutter und Kind gesucht hätte – ich weiß nicht, ob ich überhaupt eine gefunden hätte. Das ist die Regel geworden: die Männer, die sich drücken, die nicht mehr mit der Verantwortung klarkommen, und die allein erziehenden Frauen. Einer der Gründe, die zum Scheitern der amerikanischen Familie geführt haben, ist das Kino. Weil es vorgaukelt, dass alles anders geht.

Finden Sie das Kino wirklich so gefährlich? Sie selbst sind mit diesem Mythos groß geworden, mit John Fords Bildern einer unendlichen Weite, in der alles möglich scheint.

An die Freiheit, die in den Western so gut funktioniert hat, habe ich natürlich als Kind geglaubt. Denn dieser Westen ist nicht nur ein amerikanischer Mythos gewesen. Die Leute, die in diese Landschaft gingen, um den Western zu erforschen, das waren doch alles Deutsche, Italiener, Franzosen. Karl May, der nie da war, erforschte das Land sogar von hier aus. Und auch an den habe ich geglaubt. Also dieser Westen und was die Idee von Freiheit heute bedeutet, das ist so ein bisschen die Forschungsaufgabe meines neuen Films gewesen. Wir haben die Quadratur des Kreises versucht. Wir haben in dieser mythologischen Landschaft versucht, einen Film zu drehen, der von der Wirklichkeit handelt – der die Menschen etwas angeht.

Ist „Don’t Come Knocking“ mit seinem Helden, der sich auf die Suche nach einer eigenen Geschichte macht, also so etwas wie ein Spätwestern?

Western handeln nun mal von der Sehnsucht nach der Heimat, nach der Sehnsucht nach einem Zuhause. Sie handeln aber auch von diesem Verpassen des Zuhauses. All diese Helden wollen irgendwo landen und schaffen es nicht. In all diesen Western kommen auch die Frauen vor, die warten, dass irgendeiner zurückkommt, und dann kommt er erst zurück, wenn es viel zu spät ist. Nämlich dann, wenn auch sie ihr Leben verpasst haben. Es ist also das einzige Genre, das von dieser Sehnsucht und ihrem gleichzeitigen Verfehlen handelt. Deshalb haben wir den Western genommen und ein bisschen in der heutigen Zeit damit gespielt.

Howard Spence ist nicht der erste Held in Ihrer Filmografie, den Sie auf Reisen schicken. Ist Erkenntnis nur durch Bewegung möglich?

Die Menschen, die in meinem neuen Film wirklich etwas erkennen, sich was trauen und die Wahrheit sagen, das sind die, die dageblieben sind, wo sie hingehört haben. Das ist die Mutter, die seit 50 Jahren in demselben Ort lebt. Die Frau hat sogar Howards Zimmer noch erhalten. Das Jungszimmmer ist immer noch da. Die ist nicht herumgereist, aber was sie ihm sagt, wie sie sich verhält und wie sie ihr Leben lebt – das hat Hand und Fuß. Da steckt eine Erkenntnis, eine Weisheit drin, und da sind auch Emotionen drin. Die Frau hat ihr Leben so gelebt, dass sie nichts bereuen muss.

Jetzt sind Sie aus den USA wieder nach Berlin zurückgekehrt. Eigentlich könnten Sie sich gleich wieder zu Hause fühlen: Auch Deutschland hat mit angeschlagenen Mythen zu kämpfen. Auch hier wird es wahrscheinlich bald eine konservative Regierung geben.

Dennoch glaube ich, dass Deutschland den Amerikanern, was die demokratische Kultur betrifft, im Moment Lichtjahre voraus ist. Und selbst wenn hier im September eine konservativere Regierung an die Macht kommt, finde ich, dass die politische Kultur noch nicht am Ende ist. Gerade wenn man aus Amerika kommt. Aus einem Land, wo die Leute so uninformiert sind, dass einem das Herz wehtut. Weil sie einfach nichts von der Welt wissen. Dann kommt man nach Deutschland, wo man auf eine Konfliktkultur trifft, die erstaunlich ausgeprägt ist. Deshalb habe ich vor der konservativen Regierung nicht unbedingt große Angst. Vielleicht auch, weil das, was sich in Deutschland mal links genannt hat, nun Zeit bekommt, um sich zu besinnen und neu zu gruppieren. Im Moment ist da keine Kraft auf der linken Seite. Jeder Saft ist entwichen. Das gilt auch für Frankreich oder Italien. Ich finde es gerade hoch interessant, in Deutschland zu sein. Ich freue mich, bald wieder durch Deutschland zu gondeln und irgendwann den Ort zu entdecken, wo ich drehen möchte und die passende Geschichte zu finden. Doch bevor ich das Recht dazu habe, muss ich erst einmal deutsche Luft schnuppern.

„Don’t Come Knocking“. Regie: Wim Wenders. Mit Sam Shephard, Jessica Lange u. a. Deutschland/ Frankreich 2005, 122 Min.