… DIE HAVEL?
: Wieder Störfluss werden

Wer in Berlin und Umland lebt, hat es nicht einfach. Die S-Bahn ruckelt seit Jahren vor sich hin, der Flughafen wird nicht fertig, ein maroder Forschungsreaktor dämmert am Wannsee vor sich hin. Doch damit nicht genug: Am Dienstag wurde das Störfallpotenzial schlagartig aufgeblasen, die Folgen für kommende Jahrzehnte sind noch nicht absehbar. Die Verantwortlichen hoffen darauf, dass sich das jüngste Ereignis zu einem kapitalen Prachtexemplar herauswächst.

„Der letzte Stör wurde in Berlin 1868 an der Kurfürstenbrücke gefangen“, sagt Jörn Geßner vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Geßner ist gleichzeitig Vorsitzender der Gesellschaft zur Rettung des Störs e. V. Am Dienstag setzte der Biologe zusammen mit Kollegen am Wehr Bahnitz bei Pritzerbe (Potsdam-Mittelmark) rund 1.000 Exemplare des Europäischen Störs in der Havel aus.

Die Tiere werden bis zu 60 Jahre alt und bis zu vier Meter lang. Umweltverschmutzung, Gewässerverbauung und Überfischung hatten den Europäischen Stör im Laufe des 20. Jahrhunderts vertrieben. Die letzten ihrer Art wurden 1969 in der Eider in Schleswig-Holstein gesichtet, seitdem gilt die Art in Deutschland als verschollen oder ausgestorben. Seit Jahren schon wird daran gearbeitet, das „lebende Fossil“ – die prähistorischen Spuren des Störs reichen 200 Millionen Jahre zurück – wieder anzusiedeln.

Auch durch die Havel als „historischen Störfluss“ soll das Tier wieder schwimmen. „Das ist aber noch ein weiter Weg“, so Geßner. In den kommenden Jahren werden die Jungfische langsam den Fluss hinabwandern. Unterwegs schlagen sie sich den Bauch voll, über die Elbe erreichen sie irgendwann die Nordsee. Erst nach rund 15 Jahren, wenn die Störe geschlechtsreif und auf 150 bis 180 Zentimeter angewachsen sind, werden sie zurück in der Havel erwartet. Angeln wird man die Tiere aber nicht dürfen, der Stör steht unter Artenschutz. Die am Dienstag ausgesetzten Tiere sind allesamt mit kleinen gelben Fähnchen an den Flossen gekennzeichnet, damit Fischer Bescheid wissen, denen doch mal ein Stör ins Netz geht.

Die Großstörung vom Dienstag ist ein vergleichsweise kleines Mosaiksteinchen im Wiederansiedlungsprojekt. In den kommenden Jahren sollen mehrere 100.000 Tiere ausgesetzt werden, die in Frankreich gezüchtet werden. Geßner und seine Kollegen wollen damit nicht nur die Art stabilisieren, sondern auch andere Arten anlocken, deren Lebensraum der Stör erschließt.

Geßner erwartet, dass 2030 an der einstigen Kurfürstenbrücke wieder Störe anzutreffen sind – 162 Jahre nach dem letzten Kontakt. Am Donnerstag wird Klaus Wowereit feierlich das wiedererrichtete und nun in Rathausbrücke umbenannte Bauwerk eröffnen. Berlin ist also gerüstet für den Störfall. JOK Foto: ap