: Michel, Alster, Schmidt
Die Helmut-Schmidt-Gedenkfeierlichkeiten wollen nicht abreißen: Am Tag vor Weihnachten stehen Hunderte Menschen vor dem Rathaus für einem Poststempel an. Nicht nur Fans
Von Kaija Kutter .
Es gibt Momente, da hilft nur, mit dem Presseausweis zu wedeln. Etwa, wenn um kurz vor 11 Uhr schon 300 Menschen im Nieselregen vor dem Rathaus stehen, um einen Stempel für die Helmut-Schmidt-Gedenkbriefmarke zu erhaschen, den es nur am Tag vor Weihnachten gibt. Punkt elf Uhr öffnen die Pförtner das Tor. Die Menschen schreiten ins Foyer und reihen sich in die abgesperrte Ansteh-Schlange ein.
Neben dem provisorisch aufgebauten Tresen der Post steht Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit im Kameralicht, spricht von Schmidt als Vorbild, „genau so“ müsse ein Politiker sein. Sie erinnert daran, dass erst vor drei Jahren hier im Rathaus Tausende angestanden hatten, um zu seinem Tod zu kondolieren.
Seither zelebrieren einige Medien einen regelrechten Schmidt-Kult. Der Leser erfährt eine mentale Dauerbetreuung, das Gedächtnis wird sogar per Frage-Quiz trainiert – und immer nur kurze Zeit in Ruhe gelassen, um bei nächster Gelegenheit daran zu erinnern, dass der frühere SPD-Bundeskanzler und seine Frau Loki tolle Menschen waren.
Tochter Susanne wohnt beim Besuch in ihrem Elternhaus inzwischen in einer Art Museum, in dem es riecht und aussieht, als wären ihre Eltern nur mal kurz spazieren. Sie sagte im Abendblatt-Interview deutlich: Ihrem Vater wären all die Feierlichkeiten zu viel gewesen, „er hätte das nicht zugelassen“.
Aber er wird nicht gefragt. Als erste holen sich zwei junge Mädchen den Poststempel, werden dabei gefilmt. Von einer Reporterin gefragt, was sie mit den Briefmarken verbindet, sagt die eine, dass ihr Vater für die Helmut-Schmidt-Stiftung arbeitet.
Die übrigen Fans in der Schlange sind eher 60plus. Die Bedeutung der Briefmarke nimmt ab. Um jüngere Zielgruppen zu erreichen, müsste man vielleicht über ein Tattoo nachdenken. Ein Mann um die 80 will Stempel für seinen Wanderfreund, der noch Marken sammelt. Er habe von Schmidt viele Bücher gelesen, als der nicht mehr Kanzler war. Ein 63-Jähriger aus Altona bewundert vor allem Schmidts Handeln bei der Flut 1962, „dass er die Bundeswehr reingeholt hat“. Ein junger Grafiker Ende 30 hat keine Ahnung von Schmidt, „das war vor meiner Zeit“. Doch von der Freundin kam der Tipp, der Stempel könnte ein Weihnachtsgeschenk für die Mutter sein.
Dissens bei Doppelbeschluss
Die Frau hinter ihm ist sogar aus Aachen anreist, und will auch gleich noch zur Andacht in den Michel. Hamburg sei eine „tolle Stadt“. Selber war sie 34 Jahre in der SPD – und hat sie vor zehn Jahren verlassen, wegen Hartz-IV. Auch mit Schmidt war die 73-Jährige nicht immer einer Meinung, etwa 1981 beim Nato-Doppelbeschluss. Doch zum Schluss habe der mit seiner Haltung recht behalten, „es kam ja zum Abrüstungsvertrag“.
Menschen um die 70 haben offenbar ein reflektiertes Verhältnis und neigen weniger dazu, dem SPD-Rechten den Heiligenschein zu verpassen. Die Frau hinter ihr ist auch Anfang 70, sagt „ich bin 68er“ und ist bei der Nachrüstung anderer Meinung. „Ich wähle lieber Linke und Grüne, die Politik sagt mir mehr zu“, so die Billstedterin. Doch auch sie holt den Stempel für die Mutter zu Weihnachten. Ob zu viel Wirbel um Schmidt gemacht wird? „Schmidt ist halt Hamburger“, sagt sie und zuckt mit den Schultern: „Man muss das ein bisschen aufforsten, sonst kriegt die SPD überhaupt keine Stimmen mehr.“
11.25 Uhr. Das Ende der Schlange ist ins Rathaus vorgerückt, keiner wird mehr nass. „Mein Mann hat mich geschickt“, sagt die Vorletzte. Sie kommt aus einer SPD-nahen Familie, will den Stempel als Erinnerung an einfachere politische Zeiten. Wie lange sie noch stehen muss? „Eine halbe Stunde“, schätzt ein Ratshausdiener. Dem Paar am Ende ist das zu lang. Sie gehen. Gibt noch mehr zu tun am Tag vor Weihnachten.
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