Ärzte sollen weniger Pillen verschreiben

In Nordrhein-Westfalen steigen die Ausgaben für Arzneimittel: Ärzte drohen nun damit, weniger Pillen zu verordnen. Bundesgesundheitsministerium wirft den Arztpraxen unwirtschaftliches Verhalten vor. Die Kassenärztliche Vereinigung bestreitet das: „Ärzte müssen ekligen Spagat machen“

Demenzkranke erhalten weniger Medikamente, weil sie sich nicht wehren können

VON GESA SCHÖLGENS

Kranke Nordrhein-Westfalen müssen auf ihre Pillen verzichten: Die Kassenärzte in NRW sind angehalten, Arzneimittel sparsamer zu verordnen. Dazu hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe aufgefordert. Grund sind die steigenden Ausgaben für Arzneimittel sowie eine Prüfung der ärztlichen Verordnungen von 2002. Demnach überschritten 1.500 Ärzte in Westfalen-Lippe ihr Budget. Allerdings seien für einen großen Teil des Ausgabenzuwachses nicht die Ärzte verantwortlich, so die KV. „Schuld an den knappen Budgets sind vor allem die erhöhten Medikamentenpreise, der steigende Bedarf an Arzneimitteln und die Grippewelle Anfang des Jahres“, so die Sprecher der KV Nordrhein und Westfalen-Lippe.

Das Bundesgesundheitsministerium hält die Begründungen für fadenscheinig. „Eine Grippewelle haben wir doch jedes Jahr“, so Sprecherin Anneliese Ilona Klug. Viel zu häufig würden Ärzte Geld für unnötig teure Medikamente ausgeben. „Wenn die KV den Ärzten nicht die Schuld an den steigenden Ausgaben gibt, warum ruft sie die Praxen dann zur Sparsamkeit auf?“ fragt Klug. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sprach unlängst von einer „Bankrotterklärung“ der Kassenärztlichen Selbstverwaltung. Wer die Verantwortung für die beunruhigende Kostenentwicklung nicht mittragen wolle, stelle seine Existenz in Frage. Steigende Arzneimittelpreise sind laut Schmidt kein Argument: Der Preisindex für Arzneimittel sei seit Dezember 2003 um rund vier Prozent gefallen.

Gegen eine sparsamere Verordnung ist laut Verbraucherzentrale NRW nichts einzuwenden. „Allerdings nicht auf Kosten der Patienten“, sagt Gesundheitsexperte Wolfgang Schuldzinski. Zu oft würden teure neue Produkte verordnet, die nicht unbedingt wirksamer seien. Bei Demenzkranken hingegen würden Ärzte häufig zu wenig verschreiben, da diese Patienten sich kaum wehren könnten. Falls ein Arzt aus Budgetgründen wichtige Arzneien vorenthalte, mache er sich strafbar, so Schuldzinski.

Sparmaßnahmen zwängen die Ärzte zu einem „ekligen Spagat“, so Klaus Dercks, Sprecher der KV Westfalen-Lippe. Zum einen sollten die Ärzte die Patienten nach neuesten wissenschaftlichen Standards versorgen. Andererseits müssten sie Arzneimittel wirtschaftlich und zweckmäßig verordnen. Eine vernünftige und allen medizinischen Grundsätzen Rechnung tragende Behandlung der Patienten sei derzeit nicht möglich. „Die Krankenkassen handeln aber nicht bösartig, wenn sie wenig ausgeben wollen. Sie sind selbst finanziell nicht auf Rosen gebettet“, sagt Dercks.

Die von Rückforderungen betroffenen Ärzte müssen laut Krankenkassen klarstellen, warum sie überdurchschnittlich viele Medikamente verschrieben haben. Begründungen wie beispielsweise eine kostspielige Patienten-Klientel mit vielen chronisch Kranken oder Krebspatienten würden von den Krankenkassen akzeptiert, so AOK-Sprecherin Birgit Ursprung. Ob und in welcher Höhe die Krankenkassen Rückforderungen stellen, steht laut DAK-Sprecher Rainer Schmöning noch gar nicht fest: „Da muss jeder Fall individuell geprüft werden.“ Zudem sei es für die Ärzte schwierig, die Ausgaben von 2002 heute noch nachzuvollziehen.

Für dieses Jahr haben Krankenkassen und KV Westfalen-Lippe ein Gesamtvolumen von rund zwei Milliarden Euro vereinbart. Aber: „Es ist jetzt schon absehbar, dass das nicht ausreichen wird“, so Dercks. Laut Krankenkassen ist das Budget-Volumen durchaus angemessen.

In Nordrhein stiegen die Ausgaben für Arznei- und Verbandmittel im Vergleich zum Vorjahr um rund 20 Prozent. „Diese Entwicklung ist alarmierend“, sagte Klaus Enderer, stellvertretender Vorsitzender der KV Nordrhein. Es bestehe die Gefahr, dass die Kassen die Überschreitungen des Arznei-Volumens aus der Gesamtvergütung des Folgejahres entnehmen. Schlimmstenfalls werden so pro Arzt 25.500 Euro weniger Honorar ausgeschüttet. „Die Steigerungen der Ausgaben sind nicht auf Unwirtschaftlichkeit der Praxen zurückzuführen“, so KV-Nordrhein Sprecherin Karin Hamacher. Die Verantwortung liege auch bei den Arzneimittelherstellern. So seien die Rabatte auf Medikamente seit 2004 um zehn Prozent gesunken. Zudem würden immer mehr Menschen von Zuzahlungen befreit. Lösungen sieht die KV Nordrhein in der Pharmakotherapie-Beratung von Praxen mit hohen Arzneimittelausgaben und der verstärkten Verordnung preiswerter Nachahmerpräparate.