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Märchen für Große

Auch Hamburg hat jetzt sein David-Bowie-Musiktheater. Am Schauspielhaus gelingt Falk Richters „Lazarus“ mit Multimedia-Overkill dicht, aber in Bremen ist das Stück formal klarer

Von Jens Fischer

New York, London, Düsseldorf, Wien, Linz, Bremen – überall dort war der humanoide Alien Thomas Jerome Newton schon auf der Bühne und sang den Titelsong in David Bowies erstem und einzigem Musical „Lazarus“: „I’ve got scars that can’t be seen / I’ve got drama, can’t be stolen“, heißt es dort: „look up, I’m in heaven“. Jetzt gewinnt er auch inkurable Gestalt im Hamburger Schauspielhaus: Per Hyperintelligenz hat er zwar Reichtum und Macht ohne Ende gerafft, fühlt sich aber halt- und sinnlos wie am ersten Erdentag; ist sich in der Darstellung Alexander Scheers selbst zu viel geworden und von der Melancholie hineingetunkt in Liebes-, Heim- und Lebensweh.

Nach Hause will Newton, scheitert aber beim Basteln der Rakete für den Flug zu seinem Planeten. Gar nicht will er Elly, die ihn bedrängende Ehefrustflüchtige, sondern die unerreichbar verflossene Mary Lou zurück. Mit Stimmungen und Symbolen, die sich dem klaren Verstandeszugriff entziehen, hatte der vor acht Tagen verstorbene Nicolas Roeg dieses existenzielle Verlorenheitsgefühl in der Verfilmung des Sci-Fi-Romans „The Man Who Fell to Earth“ von Walter Trevis erkundet. Der alterslose Postgenderromantikpunk David Bowie spielte die Hauptrolle, die er in „Lazarus“ weiterentwickelte.

Scheer nimmt sie als Mimikry-Künstler an. Vom galanten Kopfschütteln über flehentliche Gesten bis zum Gigoloschreiten, mit roten Ziggy-Stardust-Haaren, retrofuturistischer Mode und nobler Blässe hat er sich in den Thin White Duke verwandelt, lässt dabei die schnöselig zarte und Dandy-müde angekratzte Chansonstimme mal kaltromantisch entrückt klingen und dann am Pathoswillen artifiziell brechen.

Scheer als Newton: Das ist Bowie. Sein drahtiger Körper erschlafft im Plexiglasstuhl, platziert auf einem zehn Publikumsreihen durchschneidenden Zickzack-Stern wie auf dem Cover von Bowies Konzept­album „Aladdin Sane“. Immer in Reichweite: ein Glas Gin. Dazu flimmern Weltnachrichten über Bildschirme und Leinwände.

Falk Richter knüpft als Regisseur an den Bilder-Overkill seiner Jelinek-Inszenierung „Am Königsweg“ an: US-Präsidenten erscheinen im medialen Rauschen, Terroranschläge, Amokläufe, Umweltkatastrophen und Kriege. Dagegen geschnitten sind Soaps, Mangas, Tumultszenen vom Hamburger G20-Gipfel. Drum herum werden „Kill Bill“-Zitate und sexuelle Interaktionen vertanzt, auch Rockkonzert-Gesten exaltiert. Die Kostüme: Glam-Haute-Couture und ein „Fuck Söder“-T-Shirt.

Fremd unter Fremden leidet Newton am globalen Tohuwabohu, kann als Außerirdischer aber nicht in den Tod, nur in die Fantasie entkommen. Eine nach außen gekehrte Innenschau ist daher auf der Hauptbühne zu erleben. Je nach Beleuchtung erstrahlt dort ein Kirschblütengarten Eden oder ein trostlos botanisierter Kothaufen. Faustisch kämpfen der mephistophelische Todesengel Valentine und ein von der Gretchenrolle emanzipierter Trost­engel um Newton – Verkörperungen seiner ausein­anderstrebenden Energien. Hoffnung ist das Zauberwort, das er in immer neuen Artikulationsvarianten zu ergründen versucht, klettert dann final mit dem guten Engel die Spitze des Bühnenbildes empor und beide schmettern kleinlaut selig: „We can be heroes just for one day“.

Als wäre es eine Auszeichnung für Bowies Lebenswerk, schwebt das Cover-Symbol seines letzten Albums herab: „Dark Star“. Das ist jetzt inhaltlich nicht viel, aber immerhin was in diesem Versuch, Newton als ein Alter Ego Bowies und „Lazarus“ als sein selbst kompiliertes Requiem zu inszenieren.

Als Außerirdischer kann Newton nur in die Fantasie entkommen

In Bremen will Regisseur Tom Ryser mehr, als Kunst mit Verweisen auf die Biografie des Kunstschaffenden zu erklären. Er wagt den radikalen Gegenentwurf und verzichtet auf jegliche Imitation. Schattenfiguren führen in eine ausgenüchtert surreale Bildästhetik ein. Die Hauptrolle ist mit Martin Baum besetzt, so gar kein androgynes Fabelwesen. Seine kraftvolle Stimme bietet jede Liedzeile mit Nachdruck und verständlich dar – setzt sich dabei klar ab vom Vorbild, ihm aber auch keine charakteristische Neuinterpretation entgegen.

Wie in Hamburg ist das Geschehen als verwirrte Kopfgeburt gedeutet. Auf der Bühne stehen nirgendwohin führende Treppen. Zum Finale erlöst sich der Bremer Newton selbst, indem er eine Leiter emporklettert, während die letzten, schmerzlich gedehnten „Heroes“-Töne zu hören sind.

Enda Walsh hat Dialoge zwischen das Bowie-Best-of gefügt. Wie Gedankenblitze sind die Handlungsfragmente inszeniert, wobei das fabellos assoziative Textmaterial beiderorts derart dünne wirkt, dass es keine Chance zur Entwicklung der Figuren bietet. Ausformulieren müssen sie sich in der Musik.

Die in Bremen erfrischend roh-rockig und in Hamburg diffus und allzu weich abgemischten Hit-Arrangements der Live-Band leisten die atmosphärische, die Songs die inhaltliche Arbeit. Alles läuft gekonnt nebeneinander her, wobei Richter dank des gesanglich überzeugenderen Ensembles und seiner multimedialen Dauerbespaßung der dichtere, in Bremen mit formaler Feinzeichnung der klarere Abend gelingt. Argumente für das Stück sind beide nicht. Aber bestens unterhaltende Beweise, wie Stadttheater aus dürftigen Vorlagen Publikumshits zaubern: Als Weihnachtsmärchen für die Größeren.

Bremen: 13./20./30. 12., Theater am Goetheplatz; Hamburg: 28./29. 12., Schauspielhaus

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