Ein Vertrag für die eigenen Leute

KOALITION Der Koalitionsvertrag wirkt zusammengeschustert. Aber einen roten Faden hat er: er bedient die eigene Klientel. Hartz-IV-Empfänger wählen ohnehin nicht schwarz-gelb

Die neuen Koalitionspartner tun so, als seien sie infolge einer Revolution an die Macht gelangt

AUS BERLIN BETTINA GAUS

Die Bevölkerung hat sich daran gewöhnt, dass Wahlversprechen gebrochen werden. Diese Koalitionsverhandlungen haben die Erkenntnis reifen lassen: Es gibt Schlimmeres. Nämlich die Einhaltung von Wahlversprechen.

Noch stehen genaue Höhe und Zeitpunkt der geplanten Steuerentlastungen nicht fest – die Dramatik der letzten Stunden gehört zum festen Ritual von Koalitionsverhandlungen. Aber nach den vollmundigen Ankündigungen können die neuen Regenten jetzt nicht erklären, es sei alles nicht so gemeint gewesen. Entlastungen müssen beschlossen werden, will die neue Koalition wenigstens einen Rest ihrer Glaubwürdigkeit retten. Von 20 Milliarden ist die Rede. Tendenz: steigend. Wir scheinen in goldenen Zeiten zu leben.

Aber da die Zeiten so golden bekanntlich nicht sind, dienen die Entlastungen nicht dem Interesse der Allgemeinheit, sondern vor allem der Imagepflege. Die ist auch deshalb wichtig, weil die meisten Medien in privater Hand sind. Wer steuerliche Entlastungen – auch von Unternehmen – derzeit nicht für das dringlichste aller Probleme hält, bekommt eine schlechte Presse.

Das zeigte sich übrigens bereits im Wahlkampf. Im Zeichen einer weltweiten Wirtschaftskrise, den dramatischen Folgen des Klimawandels und einer Rekordverschuldung galt plötzlich wieder einmal die Senkung der Steuern als vordringlichste Aufgabe. Und täglich grüßt das Murmeltier. Zufall? Kein Zufall.

Imagepflege hat nicht immer etwas mit den tatsächlichen Erfordernissen zu tun. Die öffentlichen Kassen sind leer, was außer den Spitzenpolitikern niemanden in der Republik überrascht hat. Nachdem der Hütchenspielertrick gescheitert ist, mit einem Schattenhaushalt die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse zu umgehen, bleibt die Frage, wer die Zeche zahlt. Fest steht, wer sie nicht zahlen soll: die Unternehmen, die Vermögenden und die von Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht.

Wenn man überhaupt eine Überschrift über die erratisch geführten Koalitionsverhandlungen finden will, dann diese: Union und FDP bedienen ihre Wählerschichten – also den Mittelstand. Kindergeld und Kinderfreibetrag sollen erhöht werden, ebenso wie das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger. Die Erbschaftsteuer wird gesenkt.

Irgendwoher muss das Geld für all diese Freundlichkeiten kommen. Was sich abzeichnet: Die Allgemeinheit wird bezahlen, darunter also auch jene, die gar nicht von den – individualisierten – Geschenken profitieren. Mit höheren Müllgebühren, mit einer Pkw-Maut, vermutlich wieder einmal mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer, mit höheren Kosten für Pflege und Krankenversicherung.

Parteitaktisch ist das nicht dumm gedacht. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger, die FDP oder Union wählen, ist überschaubar. Der Koalitionsvertrag, der unübersichtlich und zusammengeschustert wirkt, hat offenbar zumindest einen roten Faden: Wählerschichten, die wir nicht erreichen können und die entweder gar nicht oder sowieso die Linkspartei wählen, die müssen wir auch nicht bedienen.

Als ob eine funktionierende Infrastruktur nicht auch im öffentlichen Interesse läge. Wenn staatliche Schulen keine gute Bildung mehr garantieren, wenn die Besitzer von Mittelklassewagen fürchten müssen, dass ihr Auto nachts angezündet wird, wenn bestimmte Stadtviertel aus Angst vor körperlichen Angriffen gemieden werden: dann mindert das auch die Lebensqualität jener, die künftig ein bisschen weniger Steuern zahlen. Diese werden aber nicht allein deshalb links, sozialdemokratisch oder grün wählen. Sondern weiterhin von dem sogenannten bürgerlichen Lager eine Lösung der Probleme erwarten. In der Weltsicht von Wahlstrategen könnte die Rechnung aufgehen.

Die neuen Koalitionsparteien hatten erkennbar Angst vor dem Vorwurf, ein Klima der „sozialen Kälte“ zu erzeugen. Aber dieser Begriff spiegelt eine Dramatik vor, um die es gar nicht geht. Angesichts der Haushaltslage kann nicht am großen Rad, sondern nur an kleinen Stellschrauben gedreht werden. Das genügt für das wohlige Gefühl der Anhänger, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Das ist doch besser als nichts. Und sichert Stimmen.

Wer hat die Koalitionsverhandlungen gewonnen? Auf den ersten Blick die FDP. Wegen der Steuersenkungen. Gäbe es die nicht, die Liberalen hätten keines ihrer Wahlziele erreicht. Weder die – formale – Abschaffung des Gesundheitsfonds noch die der Wehrpflicht noch die Einführung des Bürgergelds. Auch deshalb müssen Steuern gesenkt werden.

Was ist das Merkwürdigste an den Koalitionsverhandlungen der letzten Wochen? Der Versuch, so zu tun, als habe man mit den Beschlüssen der Vorgängerregierungen nichts zu schaffen und könnte bei null anfangen. Auch haushaltspolitisch. Besonders seltsam ist dieses Gebaren im Hinblick auf die Union – sie war schließlich federführende Kraft bei der letzten Koalition.

Aber es geht nicht nur um CDU und CSU. Kontinuität ist ein wesentliches Merkmal parlamentarischer Demokratien. Die neuen Koalitionspartner tun so, als seien sie infolge einer Revolution an die Macht gelangt. Auch dies wird das Vertrauen in die politische Klasse – insgesamt – nicht stärken.