Erfahrungen aus erster Hand

ERZIEHUNG Kindern werden heute oft überbehütet. Doch die Kindertherapeutin Gabriele Pohl meint, dass nichts so wichtig ist wie das freie Spielen – ohne Einmischung der Eltern

Wie viel Freiheit lasse ich meinem Kind, und welche Grenzen setze ich?

VON OLE SCHULZ

Die ersten Lebensjahre sind für die Entwicklung eines Kindes grundlegend, heißt es in Erziehungsratgebern gerne. Nie wieder lernen Kinder so schnell und viel wie in dieser Zeit. Was bedeutet das für die Erziehung? Soll man den eigenen Nachwuchs in jungen Jahren etwa tatsächlich mit Englischvokabeln traktieren und bereits im Krabbelalter seine Zeit verplanen?

„Keinesfalls“, lautet die klare Antwort der Diplompädagogin und Kindertherapeutin Gabriele Pohl: „Ein Kind unter drei Jahren braucht keine Termine.“ In ihrem Buch „Kindheit aufs Spiel gesetzt“ spricht Pohl von einem Förderwahn, dem mittlerweile sogar gelegentlich Kitas unterliegen. Das Spielen hingegen wird häufig als Zeitvertreib oder Lückenfüller abqualifiziert.

Dabei sei nichts so wichtig wie das freie Spiel, sagt Pohl. Für Kinder sei es die einzige Möglichkeit, ihre Eindrücke zu verarbeiten und wesentliche Erfahrungen mit sich und der Welt zu machen. „Kinder müssen sich mit der Welt vertraut machen. Dafür brauchen sie Erfahrungen aus erster Hand und keine Medien. Sie müssen die Welt mit allen Sinnen erforschen.“

Darum sei es auch so wichtig, viel Zeit in der Natur zu verbringen und mit Wasser, Erde und Holz zu spielen. Tasten, schmecken, fühlen. Nicht zufällig komme der Begriff begreifen vom Verb greifen. „Wir müssen ihnen nur ermöglichen, selber Dinge auszuprobieren. Sie wollen sich ja anstrengen.“ Auf die so gemachten Erfahrungen können sie später zurückgreifen, wenn sie die Welt verstandesmäßig erfassen wollen.

Doch heute sind Kinder mit einer Welt konfrontiert, die ihnen oft alles vorschreiben will. „Zum Teil aus Angst, aber auch weil die Eltern wenig Zeit haben“, sagt die Kindertherapeutin Pohl. Für Wünsche und Bedürfnisse der Kinder bleibe so wenig Raum. Zudem werden sie schon früh mit „Informationen vollgestopft“. Das könne dazu führen, dass „sie aus ihrem Kindheitsraum herausgerissen werden, in dem sie sich noch sicher mit der Welt verbunden fühlen“. Es bringe jedenfalls nichts, einem Fünfjährigen schon etwas über Schwarze Löcher erzählen zu wollen. Pohl, die 2001 das Kaspar Hauser Institut für heilende Pädagogik, Kunst und Psychotherapie gegründet hat, kennt aus ihrer Tätigkeit viele Fälle von Kindern „die keinen Zugang mehr zu sich selber“ haben, weil sie einerseits zu früh intellektualisiert wurden und andererseits zu wenig echte Erfahrungen mit sich und der Welt machen konnten.

Ebenso wenig hilfreich ist es, wenn Kinder von ihren Eltern in Watte verpackt und „überbehütet“ werden – Stichwort „Helikopter-Eltern“, die keinen Konflikt zu Ende austragen und bei jeder Nörgelei dem Wunsch des Sprösslings nachgeben. Dass Kinder dermaßen im Fokus ihrer Eltern stehen, habe auch damit zu tun, dass viele Neugeborene langersehnte Wunschkinder sind, sagt Pohl. Dadurch sei die Erwartungshaltung groß, dass etwas Tolles aus ihnen wird. Vielen Eltern fehle „das Grundvertrauen, dass den Kindern auch etwas zumutbar ist“.

Stattdessen wird die körperliche Unversehrtheit zum höchsten Gut und jeder blaue Fleck zur mittleren Katastrophe. „Man sieht weniger Kinder, die allein zur Schule gehen oder überhaupt draußen auf den Straßen unterwegs sind – und wenn, dann an der Hand ihrer Mütter.“ Tatsächlich ist der sogenannte „Streifradius“ von Grundschulkindern, also der Umkreis, in dem sie sich bewegen, in nur 20 Jahren auf ein Fünftel geschrumpft.

Das sei umso unverständlicher, als „Kindheit noch nie so sicher war wie heute“, sagt Pohl. Unfallstatistiken zeigen zumindest, dass trotz erheblichen Verkehrswachstums die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Kinder deutlich gesunken ist. Krankheiten wie Kinderlähmung und Pocken sind nahezu ausgestorben, und auch Gewaltverbrechen gegen Kinder nehmen nicht zu, auch wenn die Berichterstattung in den Medien anderes vermuten lässt. Die meisten Missbrauchsfälle geschehen außerdem weiterhin überwiegend im familiären Umfeld und nicht durch Unbekannte. „Die Angst vorm bösen Mann hinterm Busch ist mediengemacht“, meint Pohl.

Alles in allem sind das doch beste Voraussetzungen, um gelassen zu bleiben. Wichtig ist laut Kindertherapeutin Gabriele Pohl eines: Altersgerechte „Seelenräume“ zu schaffen, in dem das Kind Sicherheit durch „souveräne Erwachsene“ erfährt, um sich ausprobieren und vielfältige Sinneserlebnisse machen zu können.

Zunächst ist es vor allem auf feste Bezugspersonen angewiesen. Zunehmend löst es sich jedoch im Laufe seiner Entwicklung von der Mutter. Daher braucht das Kind nicht nur seelische Räume, die Schutz und Halt geben, feste Familienrituale und gewisse Grenzen, sondern auch Freiräume, wo es ungestört von Erwachsenen, die ständig korrigieren und verbessern, spielen kann – bald erkunden Kinder zum Beispiel in Rollenspielen ihr Verhältnis zu sich und ihren Mitmenschen.

Dass sie dabei wertvolle Erfahrungen ohne die Eltern machen, müssen viele erst zu akzeptieren lernen. Eltern können heute ohnehin nicht mehr auf einen festen Kanon zurückgreifen, was richtige und was falsche Erziehung ist. Wie viel Freiheit lasse ich meinem Kind, und welche Grenzen setze ich? Dass müssen Eltern heute für sich selber herausfinden. Pohl hält das trotz aller Verunsicherung, die das mit sich bringt, für eine „positive Entwicklung“ und hält von „pauschalen Erziehungstipps“ sowieso nichts. Heute werde indes viel mehr reflektiert und der Blick „auf das individuelle Kind gerichtet“.

■ Gabriele Pohl: „Kindheit aufs Spiel gesetzt – Warum Spielen nötig ist“. Dohrmann Verlag , Berlin 2011, 183 Seiten, 15,80 Euro. Mehr Infos zu Gabriele Pohl unter www.kasparhauserinstitut.de