Vorfahrt für den Wunsch-OB

Die Kontext-Umfrage zur Stuttgarter OB-Wahl findet prominente Unterstützer. Politikexperte Hans-Georg Wehling hält die integrierte Stichwahl für eine „gute Idee“, der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim für „deutlich demokratischer“, und DGB-Chef Nikolaus Landgraf wünscht sich dafür „große Resonanz“

von unserer Redaktion

Mit einer repräsentativen Umfrage will Kontext herausfinden, wer der Wunschkandidat der Stuttgarter wäre, wenn sie eine faire Wahlmöglichkeit hätten. Bei der von Emnid durchgeführten Erhebung setzen wir voraus, dass jeder Wähler eine Haupt- und eine Ersatzstimme hat. Die Ersatzstimme zählt dann, wenn es der Lieblingskandidat bei den Hauptstimmen nicht auf einen der vorderen Plätze schafft. So haben die Iren ihren Präsidenten gewählt und die Londoner ihren Bürgermeister. Am 3. Oktober wird Kontext das Umfrageergebnis veröffentlichen.

„Montag, 22. Oktober 2012: Der Katzenjammer in Stuttgart ist groß. Wieder hat ein Kandidat der CDU die OB-Wahl gewonnen, obwohl nur ein Viertel der Wahlberechtigen auf ihrem Wahlzettel den Namen Sebastian Turner ankreuzten. Wie vor acht Jahren, als Wolfgang Schuster (CDU) die Wahl gewann. Jetzt wird ein Multimillionär aus der Werbebranche die ,Protesthauptstadt‘ regieren. Wenn er durchhält, acht Jahre lang.“

So könnte ein Bericht über den Ausgang des zweiten Durchgangs der Stuttgarter OB-Wahl beginnen, zumindest dann, wenn neben Turner zwei oder drei aussichtsreiche Bewerber ein zweites Mal ins Rennen gehen. Diese Erfahrungen haben die Stuttgarter bereits gemacht. „Bei einem anderen Wahlrecht hätte 1996 aller Wahrscheinlichkeit nach Rezzo Schlauch von den Grünen das Rennen gemacht und 2004 Ute Kumpf von der SPD“, sagt Edgar Wunder vom Landesvorstand von Mehr Demokratie e. V.

Der Vorschlag zur Änderung des Wahlrechts stammt von Mehr Demokratie e. V. und der Internetplattform Wahlrecht.de. Die Ausgangslage sei diesmal noch schwieriger als bei den beiden vergangenen OB-Wahlen, sagt Wunder. Der Grund: Neben dem CDU-FDP-FW-Kandidaten Sebastian Turner könnten mit Fritz Kuhn (Grüne), Hannes Rockenbauch (SÖS) und Bettina Wilhelm (von der SPD nominiert) drei Kandidaten unter Berufung auf ein zweistelliges Ergebnis in der zweiten Runde erneut antreten.

„Warum lassen uns die Parteien nun zum dritten Mal ins offene Messer laufen“, fragte eine Kontext-Leserin. Schließlich hätte Grün-Rot das Wahlrecht längst ändern können. Dazu hätte eine einfache Mehrheit im Landtag genügt. „Und die haben die beiden Parteien seit Mai 2011“, bekräftigt die Leserin.

Einen Gesetzentwurf für eine integrierte Stichwahl gibt es bereits. Ausgearbeitet hat ihn Wilko Zicht. Der Bremer Wahlrechtsexperte und Mitbetreiber von Wahlrecht.de hat bereits zwei Mal beim Verfassungsgericht gegen das Bundestagswahlrecht geklagt und erst jüngst wieder gewonnen. Die Begründung ist einleuchtend: Nach wie vor könne es vorkommen, dass eine Partei weniger Mandate erhalte, wenn sie eine bestimmte Stimmenzahl überschreite. Auch die Überhangmandate könnten die Sitzverteilung verzerren und im schlimmsten Fall die Mehrheitsverhältnisse zwischen Regierung und Opposition ins Gegenteil verkehren.

Um Le Pen zu verhindern, mussten Linke Chirac wählen

Im Ausland gibt es die Gegenbeispiele, etwa in London. Boris Johnson, seit den Olympischen Spielen weithin bekannt, ist über eine integrierte Stichwahl ins OB-Amt gekommen. Auch in der kalifornischen Stadt San Francisco wird das Oberhaupt nach diesem System gewählt. Angewandt wird das Modell auch in Australien oder Irland.

Wie der Wählerwille verfälscht werden kann, zeigte sich auch in Frankreich, bei der Präsidentschaftswahl 2002. Der rechtskonservative Jacques Chirac kam damals im ersten Wahlgang mit 19,9 Prozent der Stimmen auf Platz eins. Auf dem zweiten Platz landete mit 16,9 Prozent Jean-Marie Le Pen, der Kandidat der ausländerfeindlichen Partei Front National. Rund 60 Prozent der Wähler kreuzten Kandidaten aus dem linken Parteienspektrum an. Die meisten Stimmen (16,2) erhielt dabei der Sozialist Lionel Jospin – zu wenig für die nächste Runde. In der Stichwahl mussten dann Sozialisten, Grüne oder Kommunisten Chirac wählen, um Le Pen zu verhindern. Bei einer integrierten Stichwahl nach dem Vorbild Irlands hätte es dazu nicht kommen können. Jospin und/oder ein anderer Bewerber der politischen Linken wäre an Le Pen vorbeigezogen, da die linke Klientel kaum Chirac oder Le Pen als Ersatzkandidaten angekreuzt hätte.

Oder erinnern wir uns an die Wahl von George W. Bush im Jahr 2000. Nachdem die US-Grünen in Florida ein vergleichsweise gutes Ergebnis einfahren konnten und damit den Demokraten viele Stimmen abnahmen, siegten die Republikaner mit einem Vorsprung von rund 500 Stimmen und stellten so alle 25 Wahlmänner des Bundesstaates. Damit hatte Bush den entscheidenden Vorsprung, obwohl der Demokrat Al Gore bei der Auszählung in allen Bundesstaaten rund eine halbe Million mehr Stimmen erhielt als Bush.

In Baden-Württemberg darf jede(r) kandidieren

Zurück nach Baden-Württemberg: immerhin bietet das Kommunalwahlrecht im Gegensatz zu anderen Bundesländern den Vorteil, dass die Kür der Kandidaten nicht nur Sache der Parteien ist. „So können die politischen Parteien die Wähler nicht bevormunden“, sagt der Tübinger Politologe Hans-Georg Wehling. Positiv am hiesigen Wahlsystem findet Wehling auch die Möglichkeit, auf den Wahlzettel in einer eigens dafür vorgesehenen Zeile den Namen einer Person schreiben zu können, die nicht kandidiert hat. Keine 20 Kilometer von Stuttgart entfernt, in Nürtingen, hat Claudia Grau so 2011 im zweiten Wahlgang ein Drittel der Stimmen erhalten. Eine Initiative hatte zuvor über Flugblätter, Facebook, Google und Twitter dazu aufgerufen, die Kulturbürgermeisterin zu wählen. Und im Weinort Hagenau am Bodensee ist 2003 Simon Blümcke gewählt worden, obwohl er nicht kandidiert hatte und weder katholisch noch CDU-Mitglied, noch Badener ist.

Eine Initiative nach dem Beispiel Nürtingens ist in Stuttgart bisher nicht bekannt. Intensiv diskutiert wird aber über die Frage, wie erreicht werden kann, dass die Parteien beim zweiten Durchlauf auf den Willen der Wählerinnen und Wähler hören. Für das schwarz-gelbe Publikum ist dies kein Problem – dafür tritt Sebastian Turner an. Doch wer wird für die grünen, roten und SÖS-Wähler antreten? Und wie sollen die Wähler an dieser Entscheidung beteiligt werden? Die Umfrage der Kontext:Wochenzeitung soll dazu einen Beitrag leisten.

Kontext findet Wunsch-OB

Die Kontext-Umfrage wird rund 7.000 Euro kosten. Das ist ein großer Betrag für eine kleine Zeitung. Deshalb: wer das Mehr an Demokratie unterstützen will, kann helfen. Überweisen Sie Ihre steuerabzugsfähig Spende an „Kontext: Verein für ganzheitlichen Journalismus e.V.„ – Stichwort „Umfrage“.

Kontonummer: 7011 850 600, GLS Bank: 430 609 67

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Die integrierte Stichwahl ist deutlich demokratischer als das aktuelle System der Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg, da sie den Wählerwillen besser wiedergibt. Zugleich ist sie weniger aufwendig.

Hans Herbert von Arnim, Professor für Verfassungsrecht, Speyer

Ich halte die integrierte Stichwahl im Prinzip für eine gute Idee. Nicht nur für OB-Wahlen. Dennoch habe ich beim aktuell gültigen System in Baden-Württemberg keine demokratietheoretischen Bedenken.

Hans-Georg Wehling, Professor für Politik, Tübingen

Ein System mit nur einem Wahlgang wäre auch leichter vermittelbar. Immerhin haben in Stuttgart bei Kommunalwahlen 28 Prozent der Wählerinnen und Wähler einen Migrationshintergrund.

Ute Kumpf, Bundestagsabgeordnete (SPD), Stuttgart

Die Idee einer im ersten und einzigen Wahlgang integrierten Stichwahl nach irischem Vorbild hat für mich viel Charme. Dadurch würden taktische Parteienspielchen unterbunden.

Nikolaus Landgraf, DGB-Landesvorsitzender

Für die Wahl von Bürgermeistern lehne ich das System ab. Doch gibt es Wahlen, bei denen das System sinnvoll wäre. Zum Beispiel bei der Wahl der Spitzenkandidatin und des Spitzenkandidaten der Grünen. Doch da geht esnicht, da es die Satzung unserer Partei nicht vorsieht.

Boris Palmer, Oberbürgermeister (Grüne), Tübingen