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Spürbare Liebe, Germanophilie

Das renommierte britische Label Strut Records feiert die deutsche Postpunk-Blütezeit und versammelt auf dem Sampler „Kreaturen der Nacht“ Stücke von 1979 bis 1985

Haben heute schon Klassikerstatus: Mania D 1980 Foto: Jutta Henglein

Von Jens Uthoff

Faszinierend. Es braucht nur ein paar Takte, wenige Zeilen, schon ist das Zeitgefühl der Frühachtziger angeknipst. Und im Fall der zu Unrecht vergessenen Westberliner All-Woman-Band Ausserhalb ist „Zeitgefühl“ hier tatsächlich in doppeltem Sinne gemeint. Denn in deren Lied „Zeitzelle“ (1983) spricht Sängerin Christina Thürmer-Rohr mechanisch und wiederkehrend die Verse: „Wir stehen/ Die Zeit steht/ Wir stehen auf der Zeitstelle/ sitzen in der Zeitzelle“.

Der immer gleiche Rhythmus und die minimalistischen Gitarrenakkorde bilden den Stillstand hier klanglich nach, nur zwischendurch scheinen ein wilder, geslappter Bass und ein frei flottierendes Saxofon einen Ausweg aus der Mauerstadt-Monotonie zu bahnen. Es reicht, diesem Quartett ein paar Minuten zuzuhören, und die Assoziationen ploppen im Kopf nur so auf: Nato-Doppelbeschluss, Wackersdorf, Christiane F., Vakuum Westberlin. Heilsuche im Hedonismus.

Die Band Ausserhalb, deren Sängerin Thürmer-Rohr man aus feministisch-wissenschaftlichen Kontexten kennt, gehört zu den spannendsten Wiederentdeckungen, die man dank des nun erschienenen Samplers „Kreaturen der Nacht“ machen kann. Die Kompilation versammelt 16 Stücke aus der Postpunk-Blütezeit 1979 bis 1985, sie erscheint auf dem renommierten britischen Label Strut Records.

Zusammengestellt hat sie Keith McIvor alias JD Twitch, ein in der elektronischen Musikszene bekannter DJ, Club- und Labelbetreiber aus Glasgow. Schwerpunktmäßig bildet er hier die Berliner Wave-Szene ab – aber auch Hamburg und München sind vertreten. In den ­Liner-Notes zum Sampler schreibt JD Twitch, ihn habe einst eine „Germanophilie oder am Ende eher eine Berlinophilie“ heimgesucht, nachdem er sich mit dem deutschen Underground der Achtziger beschäftigt habe. Diese Liebe ist spürbar. „Kreaturen der Nacht“ ist toll kuratiert und gestaltet.

Mit Acts wie Mania D., Malaria!, Andreas Dorau & Die Marinas und Die Haut finden sich einige Klassiker darauf (wenn die gewusst hätten, dass man sie mal Klassiker nennen würde!), aber es gibt eben auch richtige archäologische Funde. Etwa die Band Leben und Arbeiten, bei der folgerichtig auch Jochen Arbeit mitwirkte und die den Übergang vom Punk zum Postpunk gut markiert („Amanita“). Oder P1/E, eine Gruppe, in der zeitweilig Alexander Hacke spielte und die hier mit feinstem LoFi-Dub vertreten ist (“Up & Above“, 1980).

Und dann sind da noch Bands, deren Namen Musikinteressierten schon mal untergekommen sein mögen, die aber tiefste Nische waren und sind. So kann man Wolfgang Seidel mit seinem Projekt Populäre Mechanik hören, dem sich immerhin schon vor einigen Jahren das Bureau-B-Label mit einer Wiederveröffentlichung angenommen hat. Das Stück „Scharfer Schnitt (No.1)“ (1982) klingt funky, vertrackt, verschachtelt – und macht Lust auf mehr Populäre Mechanik. Das Synthieduo Weltklang, einzige Ostband auf dem Sampler, hat dagegen schon länger eine Fanbase bei Musikerkollegen, aber nie die ganz große Wertschätzung erfahren. Das wummernd-pluckernde „VEB Heimat“ (1980) jedenfalls ist ganz großartig.

Mit Christiane F. ist die Symbolfigur jener Zeit auch selbst vertreten

So bewegen sich eigentlich so gut wie alle Stücke auf hohem Niveau und spiegeln den Zeitgeist. Der Münchener Beitrag von Franz Erlmeier und Fritz Köstler – „Öffnen Sie mal Ihre Tasche“ (1985) – fängt die ganz eigene Kalte-Kriegs-Paranoia gut ein. Mit Christiane F. ist die schon genannte Symbolfigur jener Zeit auch selbst vertreten, „Wunderbar“ (1982) ist eines ihrer wenigen musikalischen Zeugnisse.

Das Stück weist im Vergleich zu den anderen Tracks am deutlichsten auf die bevorstehende, vollends durchkommerzialisierte Neue Deutsche Welle vor­aus, die den Tod dieser Szene bedeuten sollte. Der Refrain hat dabei im Falle Christiane Felscherinows eine tragische Konnotation: „Ich klau dein Auto/ und fahr zur Disco/ Ich bin so süchtig/ dein Lenkrad zu fühlen/ Ich bin so süchtig“, singt sie. Gudrun Gut weist im Begleittext erfreulicherweise darauf hin, dass man diese schön anarchische, aber auch harte Zeit nicht einseitig verklären sollte. „Kreaturen der Nacht“ ist mehr als nur eine kurzweilige Geschichtsstunde. Manche Tracks sind zeitlos aktuell, so bedarf es etwa keiner großen Anstrengung, das Lied „Fakten“ (1981) von der minimalistisch-dadaistischen Band ExKurs auf die Gegenwart zu beziehen. Die Refrainzeile lautet: „Fakten sind Terror“.

Auch weil gegenwärtig der Sound des Postpunk vermehrt aufgegriffen wird – man denke an Bands mit klingenden Namen wie Pisse, Erregung öffentlicher Erregung, oder Puff! –, ist dieses Release gut getimt. Und vielleicht verwundert es nach dem Hören auch gar nicht so sehr, wenn die heutige Generation sich auf diese Epoche bezieht. Denn die Sehnsucht nach derart urtümlicher, energetischer Musik scheint in Zeiten des Loops doch erklärbar; der Rückgriff auf eine Zeit, in der man noch Zeit hatte, angesichts des digitalen Dauerfeuers verständlich. Allerbestes Anschauungsmaterial aus dieser Ära bietet dieser Sampler allemal.

Various Artists: „Kreaturen der Nacht“ (Strut Records/Indigo), Release mit Gudrun Gut, Beate Bartel et al.: 15. 11., Loophole

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