Der wandernde Kelch

ORGIEN-MYSTERIEN-SPIEL Die US-Doom Metalband Sunno))) bringt wie erwartet selbst den hohen Kathedralenraum des ausverkauften Berghain zum Beben

Es riecht nach verschmortem Kabel, eine Trockeneismaschine pustet unablässig Nebelschwaden, deren billiger Duft Rachenkratzen auslöst. Dazu werfen Blendstrahler grelle Lichtkegel auf die Zuschauer. Wie die Lemminge stehen sie vor der Bühne. Freitagabend 21 Uhr ist eigentlich keine typische Berghain-Zeit. Zum Tanzen soll die Atmosphäre auch gar nicht verleiten. Zur Abwechslung bevölkern Headbanger aller Haarlängen und Altersstufen, aber auch Indiepublikum, Künstlertypen und Touristen den Technoclub, um sich im Sound von Sunno))), der mutmaßlich lautesten Band der Welt, zu spüren. Anders als bei einem typischen Metalkonzert besteht das Publikum mindestens zur Hälfte aus Frauen.

Ein schürfendes Wummern kriecht – selbst durch Ohropax gedämmt – durch die Gehörgänge in jeden Knochenspalt. Der infernalische Verstärkerlärm passt perfekt in den hohen, kathedralenartigen Raum des ehemaligen Heizkraftwerks. Durch die ausgezeichnete Haus-PA wird die Musik klangrein und druckvoll verstärkt, so erhalten die Trommelfelle schon mal eine Ahnung vom Weltende.

Normalerweise werden Vorbands bei Metalkonzerten durch verminderte Lautstärke gedemütigt. Das US-Duo Eagle Twin kann an diesem Abend aus dem Vollen schöpfen. Zu zweit, mit Gitarre und Drums, haben Eagle Twin den Punch einer ganzen Band. Gitarrist Gentry Densely hat die Saiten seiner Gitarre extra tief gestimmt, sodass auch das letzte Quäntchen Vitalität aus dem Instrument entwichen ist. Drummer Tyler Smith bettet die Lebensherbstmelodien seines Partners in den Groove eines humpelnden Leichenbestatters. Der Applaus ist frenetisch, vor der Bühne müssen die beiden vollbärtigen Musiker fleißig Hände schütteln.

Formstreng sind Sunno))) auch dem Äußeren nach: In Mönchskutten kommen sie auf die Bühne. Die Gesichtszüge bleiben unter den Kapuzen unsichtbar, nur die Gitarren starren wie Folterwerkzeuge. Sunno))) stilisieren Metal zum lebenden Kunstwerk, das mehr mit dem Orgien-Mysterien-Spiel eines Hermann Nitsch zu tun hat als mit einem Rockkonzert. Die Lautstärke mag abschreckend sein, und trotzdem wird man den kathartischen Krach aus den Verstärkern irgendwann wie eine Kurpackung empfinden. Wobei die Lautstärke nur die eine Seite der Inszenierung ist. Die andere Seite sind die manierierten Bewegungen der Musiker, die über die ironische Travestie von Metal hinausgehen. Ihre Hände sind in die Höhe gestreckt, vor jedem Gitarrenriff sausen sie wie Fallbeile in die Tiefe. Keinerlei Ansprache an das Publikum, keine Erklärungen sind nötig, es spricht nur die dämonische Lautstärke. Zwischen jedem Ton bleiben lange, mit quälendem Feedback gefüllte Pausen, der Resonanzraum für Improvisationen. So ist das neue Sunno)))- Album „Monoliths & Dimensions“ um Chor, Posaunist und Streicher erweitert. Auch im Berghain tritt das Kernduo Stephen O’Malley und Greg Anderson zusammen mit einem Keyboarder, Oren Ambarchi, und einem ungarischen Sänger, Attila Csihar, auf. Csihar stellt einen riesigen Kelch auf die Bühne und nutzt ihn als Klangschale. Das Gitarrenfeedback lässt den Bühnenboden erzittern, und der Kelch bewegt sich von selbst. Dazu singt Csihar minutenlang Obertöne. Er röchelt wie ein tödlich Verwundeter, und das ohnehin unmelodische Ungarisch wird zur Fantasiesprache. Sunno))) sind nicht ganz von dieser Welt. Das aber ist ihr großes Plus. JULIAN WEBER