berliner szenen: Ihre Tasche trägt sie selbst
Es muss irgendwann im Winter gewesen sein, sagen wir mal: vor zehn Jahren, plus/minus. Die Museumsinsel war überzogen von nachtfeuchtem Glitzern. Alles war still, niemand mehr unterwegs, wie meistens dort, wenn’s kalt und dunkel ist. Sowieso einer der schönsten Herbstwinterorte der Stadt: Weil sich alles so zeitlos anfühlt, wenn man langsam, vom Gorki-Theater kommend, den Straßenbahnschienen um die Ecke folgt, sich kurz über den seltsamen Lampenladen zur Rechten wundert (ist der da immer noch?), und auf einmal: Die Straße weitet sich, Platz nur für mich. So herrlich spärlich beleuchtet, dass alles rundherum ins Schwarz suppt. So schummrig, dass ich sogar die Polizisten oft übersehe, die vor dem einen Haus da am Kupfergraben hin- und herschlendern.
An jenem Abend jedoch hielten gerade zwei dunkelschimmernde Limousinen am Straßenrand, die Abgase dampften, Typen mit dunklen Mänteln standen rum, die eine Kofferraumklappe war offen, jemand stand davor und griff hinein.
Ich war gerade auf Höhe der Wagen, als ich verstand, was ich da sah: Angela Merkel holte ihren dicken Aktenkoffer aus dem Auto. Da ist also diese Frau, die gerade von der Arbeit kommt und noch mehr vor sich hat, die zwar samt Personal bis vor die Haustür eskortiert wird, aber ihren Kram trägt sie selbst. Diese Szene: ein einziges nüchternes Selbstverständnis von Macht. Was für eine Wucht.
Im Weiterfahren drehte ich mich kurz um. Die Bundeskanzlerin ging, Koffer in der Hand, die Treppe hoch. Was sie jetzt wohl macht?, überlegte ich. Vielleicht hätte sie ja Appetit auf Spaghetti. Ich könnte einfach etwas mehr kochen, dann setzt sie sich zu uns zwei CDU-Fernen, wir essen, quatschen ein bisschen, merken, dass Überraschendes möglich ist: Grünen-Sympathie für eine CDU-Kanzlerin. Anne Haeming
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