Kohls fremdes Mädchen

Gerd Langguth und Evelyn Roll machen sich auf die Suche nach dem Geheimnis von Angela Merkel – und finden es in ihrem Außenseiterdasein in der DDR

VON JENS KÖNIG

Neulich war Angela Merkel zu beobachten, wie sie durch die Uckermark, ihre brandenburgische Heimat, spazierte, wie sie das Haus ihrer Eltern besuchte, auf ihr Kinderzimmer unter dem Dach zeigte und in ihrem alten Klassenraum erzählte, dass sie dort immer in der letzten Reihe gesessen habe. Merkel wirkte dabei so leidenschaftlich, als handele es sich um ein altes Inka-Reich, das im dritten Jahrtausend vor Christi untergegangen ist.

Am Ende dieses ZDF-Porträts wussten viele Zuschauer über die kommende Bundeskanzlerin nicht mehr als vorher. Der tiefere Grund dafür liegt in der Verwirrung, die diese ostdeutsche Politikerin an der Spitze der an sich westdeutschen CDU immer noch auslöst. Merkel ist bis heute eine Unbekannte geblieben – was angesichts der alles und jeden durchdringenden Mediengesellschaft ein kleines Wunder darstellt.

Zwei Fragen stehen bei der Erkundung dieser Person immer im Vordergrund: Was will Merkel mehr als die Macht? Vor allem, warum will sie es? Dahinter verbirgt sich jedoch die stets etwas verschämt gestellte Frage, wie viel DDR in dieser Frau eigentlich noch steckt: Wie kann eine Physikerin, die hinter der Mauer fleißig, aber unauffällig vor sich hin forschte, einen derartigen Machtwillen ausprägen, dass sie es in nur fünfzehn Jahren bis an die Spitze des vereinigten Deutschland bringt und dabei ihre ostdeutsche Prägung scheinbar unsichtbar macht?

Vermutlich entzieht sich eine solche Fragestellung der oberflächlichen Darstellungsform des Fernsehens. Wer etwas über Angela Merkel erfahren will, muss sich schon die Mühe machen, die beiden aktuellen Biografien über sie zu lesen. Die Journalistin Evelyn Roll, Reporterin bei der Süddeutschen Zeitung, und der Politikwissenschaftler Gerd Langguth, früher Mitglied des CDU-Bundesvorstands und Bundestagsabgeordneter, kommen im Kern zum gleichen Ergebnis: Merkels Herkunft aus einer protestantischen Pfarrersfamilie sowie ihr früh ausgeprägter Ehrgeiz, die Nachteile dieses Außenseitertums in der DDR durch extremen Fleiß wettzumachen, erklären vieles, wenn auch längst nicht ihren ganzen politischen Werdegang nach 1989.

Bei Roll, deren jetzt erschienenes Buch „Die Erste“ die aktualisierte Fassung ihrer Biografie „Das Mädchen und die Macht“ ist (taz vom 9. 10. 2001), liest sich das so: „Sie ist schon immer von außen gekommen, aus einer anderen Welt. Und immer musste sie deswegen schon die Beste sein. So hat sie es gelernt als Kind. Tag für Tag. Und seither wiederholt sie das Muster dieser Kindheit.“ In der Langguth-Version klingt das nicht viel anders: „Die blitzgescheite und schnell erfassende Angela Merkel ist eine Persönlichkeit, die sich als Spätankommerin […] noch immer im Zustand des permanenten Lernens befindet, deren Lebensweg das in der Fremdheit Tastende einer Persönlichkeit aufzeigt, die im Osten Deutschlands aufwuchs, dort (verständlicherweise) Karriere machen wollte – und wegen ihrer geistigen Ablehnung des Kommunismus doch nicht so richtig zur DDR-Gesellschaft gehörte.“ Mit diesem Fremdheitsgefühl und ihrem Ehrgeiz erklären Roll und Langguth auch das, was Merkel so ganz anders als etwa Gerhard Schröder erscheinen lässt: ihre Unnahbarkeit sowie ihr effizientes, „kaltes“ Politikverständnis.

Doch bei aller Ähnlichkeit in der Analyse von Merkels Lebensgeschichte – schon die beiden Zitate zeigen, dass es sich hier um zwei grundverschiedene Bücher handelt. Roll hat eine brillante Endlosreportage geschrieben, mehr ein Porträt als eine Biografie. Sie beschreibt Merkels Weg vom beschaulichen Templin mitten hinein ins Zentrum der Berliner Macht anschaulich, lebendig und mit dem außergewöhnlichen Gespür für jedes noch so kleine Detail. Sie legt keinen Wert auf Chronologie oder Vollständigkeit.

Rolls Buch ist fast zu schön, an manchen Stellen wünscht man sich mehr Fakten und eine schärfere Analyse, beispielsweise über die Rolle Merkels beim Schäuble-Sturz – also Recherche statt Formulierungskunst. Langguth hingegen untersucht Merkels atemberaubende Karriere mit wissenschaftlicher Akribie und der klugen Analyse des CDU-Insiders. Der Ton seines Buches ist kühl, nüchtern, sachlich, bisweilen hart an der Grenze, Langeweile zu erzeugen.

Gerade wegen der Verschiedenartigkeit der Bücher, die erst zusammen ein wirklich rundes Bild von Merkel zeichnen, ist es nicht so ganz erklärlich, dass Langguths Biografie mittlerweile zum Standardwerk über die CDU-Kanzlerkandidatin avanciert ist – und Rolls Buch in der Masse der Merkel-Literatur etwas untergeht. Langguths Biografie weist, bei aller Stärke gerade im zweiten Teil, wo es um die Politikerin Merkel geht, ein paar unübersehbare Schwächen auf. Geschlagene 834 Fußnoten sind nicht Ausdruck von Quellengenauigkeit, sondern von Wichtigtuerei beim Belegen von Allerweltsfakten.

Das Buch ist schlecht lektoriert, Langguth wiederholt manche Fakten innerhalb nur weniger Seiten bis zu dreimal. Und das abgedruckte Interview mit Merkel ist belanglos, es liest sich, als hätte der Autor keine Zeit mehr gehabt, es als Material für seinen Text zu verwenden, weil er von den Neuwahlplänen des Kanzlers überrascht wurde. Das Gleiche lässt sich von den zehn Thesen sagen, mit denen Langguth am Ende des Buches seinen Gegenstand zu deuten versucht. Hier möchte er etwas wettmachen, das er auf den ersten 300 Seiten gar nicht versäumt hat: eine plausible Erklärung dafür zu liefern, warum Angela Merkel so geworden ist, wie wir sie zu kennen glauben – und dennoch nicht immer verstehen.

Gerd Langguth: „Angela Merkel“. dtv, München 2005, 399 Seiten, 14,50 Euro Evelyn Roll: „Die Erste“. rororo, Reinbek 2005, 362 Seiten, 9,90 Euro