Chronik einer angekündigten Abschiebung

Rund 250 SchülerInnen und Lehrende der Gesamtschule in Belzig protestierten seit Wochen. Dennoch wurde gestern in Belzig die vierköpfige bosnische Familie Memic im Morgengrauen abgeschoben. Sohn Mehmed stand kurz vor dem Abitur

aus BELZIG KERSTIN HENSEKE

Als Jörg Hallex, Chef der Ausländerbehörde Potsdam-Mittelmark, punkt sechs Uhr morgens die Lessingstraße 2 im Belziger Plattenbauviertel Klinkengrund betritt, kommt er nicht weit. Die Treppe ist bis vor die Wohnungstür mit SchülerInnen der städtischen Gesamtschule besetzt. Die Teenager schweigen, einige weinen. „Wollen wir hier sitzen bleiben bis morgen?“, fragt Hallex die hinter ihm aufgerückten Jungen und erntet Schweigen. Die Schüler kennen die möglichen Folgen ihres stillen Protests. Notfalls würden Polizisten sich Zutritt verschaffen und die bosnische Familie Memic abführen.

Die Schüler wollen nicht, dass ihr Mitschüler Mehmed (20), sein Bruder Elmir (19) und die Eltern Fahrudin (48) und Vesna (44) abgeschoben werden. Im März 2000 waren die Memics aus Sarajevo geflüchtet. Der Vater konnte die als Parteispende deklarierten wöchentlichen Schutzgeldzahlungen für sein Lebensmittelgeschäft und Café nicht mehr zahlen. Erst wollte die Mafia 500, später 1.000 und schließlich 5.000 Mark. „Ich wollte nicht mit der Politik zusammenarbeiten, einfach nur leben“, sagt Fahrudin. Die Erpresser entführen ihn, misshandeln ihn drei Tage lang. Dank hastig aufgetriebenen Lösegelds kommt er mit dem Leben davon.

Deutsche Gerichte erkennen darin keine politische Verfolgung. Auch die erlittene Diskriminierung, der die Familie in Bosnien wegen der serbischen Herkunft Vesnas ausgesetzt war, spielt hier keine Rolle. Den rund 80 AbiturientInnen, die seit vier Uhr morgens vor dem Haus der Familie ausharren, ist das alles nicht egal. Leise redend, rauchend, einander wärmend, machen sie sich Mut. Unter ihnen sechs Lehrerinnen und ein Lehrer. Vor drei Tagen waren 250 von ihnen mit der Forderung vor das Landratsamt gezogen, Mehmed solle wenigstens sein Abitur beenden dürfen.

Die Polizisten haben aschgraue Mienen. Im kleinen Belzig kennt jeder jeden. Im Hausflur droht Hallex den Sitzstreikenden inzwischen mit Anzeigen. „Er muss als Versammlungsleiter den Kopf hinhalten“, weist ein Polizist drohend auf einen jungen Vietnamesen. Hoa Fröhlich, der heute den Namen seiner deutschen Adoptivfamilie trägt, lächelt höflich. Es gibt Schlimmeres.

Was Mehmed widerfährt, kennt Hoa nur zu gut. Weil seine Mitschüler für ihn bis zum damaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe gegangen sind, ist er noch hier. Für Hoa blockierten sie den Platz vor der katholischen Kirche, wo er gemeinsam mit seinem Freund Huy Kirchenasyl gefunden hatte. Als Hallex’ Leute sie herausholen wollten, wurden sie von den Schülern abgelenkt. Die beiden Jungs konnten, dank praktizierter Ökumene, mit einem evangelischen Pfarrer aus der Hintertür verschwinden. Hoa und Huy haben mittlerweile eine Niederlassungserlaubnis.

„Undemokratisch“ und „inhuman“, diese Worte schallen Hallex entgegen. Sie können nicht mehr verhindern, dass die Familie nun zum Flughafen Tegel gebracht wird. Erreicht haben sie nur, dass Mehmed nach der Ankunft in Bosnien einen Antrag stellen darf, um die Wiedereinreisesperre für abgeschobene Asylbewerber aufheben zu lassen. „Wir werden diesen Antrag positiv bearbeiten“, verspricht Jörg Hallex.

Die Eltern haben inzwischen freiwillig und gemeinsam mit einer Pastorin ihre Wohnung verlassen. Gegen 6 Uhr 30 ist alles vorbei. Zurück bleibt eine vollständig eingerichtete Wohnung. Die Familie darf nur mit den üblichen 20 Kilo Gepäck ins Flugzeug. „In spätestens sechs Monaten feiern wir Wiedersehen“, ruft jemand den Weggehenden hinterher. „Na hoffentlich“, wird geantwortet. „Nicht hoffentlich, Mensch, du musst sagen: Sicher!“