peter glotz in der taz vom 22.8. 1992 über die bosnische tragödie
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Man darf nicht ungerecht sein? Da und dort wird die große Erzählung von den kroatischen Engeln und den serbischen Teufeln durchaus durchbrochen. Gelegentlich gibt es eine Eigenrecherche in der Frankfurter Rundschau, einen mazedonischen oder serbischen Querschläger oder einen Korrespondentenbericht in der taz … Im großen und ganzen aber dominiert die deutsche Lesart: Auf dem Balkan geht es nicht um die mörderische Auseinandersetzung von Nationalismen, die alte Rechnungen miteinander begleichen; auf dem Balkan findet der Befreiungskampf unterdrückter (und im Fall von Slowenen und Kroaten zu unserem Kulturkreis gehörender) Völker gegen den großserbischen (slawischen) Chauvinismus statt. Nur die Prägekraft dieser Formel erklärt die geradezu atemberaubende Geschwindigkeit, in der in Deutschland erstmals seit 1945 wieder eine Art Kriegsstimmung erzeugt werden konnte; nicht im Volk, wohl aber in einem Teil der politischen Klasse. […]

Das Fazit? Die deutsche Publizistik muß aus dem jugoslawischen Exempel lernen. Europa dürfte vor einer Fülle „kleiner Kriege“ stehen – einer häßlichen Abfolge grausamer ethnischer Konflikte, bei denen immer wieder innerstaatliche Deportationen, Vertreibungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar Völkermord vorkommen werden. Die Parteien in diesen Kriegen werden mit systematischen Desinformationen arbeiten; die Zeit der (kleinen) Goebbels und Münzenbergs ist leider nicht vorbei. Ein schreckliches Beispiel bietet schon heute der Machtkampf zwischen Schewardnadse und Gamsachurdia in Georgien. Wenn Deutschland politisch gut beraten ist, strebt es bei der Behandlung dieser unvermeidlichen Verwicklungen keine „Führungsrolle“ an, sondern agiert als gesprächsfähiger Partner in der Europäischen Gemeinschaft. Die Voraussetzung für eine solche Politik ist eine skrupulöse, möglichst umfassende, vollständige, vorsichtige und faire Berichterstattung.