Fragwürdige Maßnahmen: Fordern statt Fördern

HARTZ IV Arbeitslosenzentrum zieht ernüchternde Bilanz seiner Beratungstour vor Jobcentern

Obwohl eine Frau aus Pankow unter Niereninsuffizienz und ihr Sohn unter Multipler Sklerose und Glutenunverträglichkeit leiden, hat ihr das zuständige Jobcenter das Geld für die notwendige Ernährung verweigert. Dies ist einer der extremen Fälle, mit denen das Berliner Arbeitslosenzentrum e. V. (balz) während seiner sechsten Beratungstour „Irren ist amtlich – Beratung kann helfen!“ zu tun hatte, erzählt Frank Steger, Koordinator der Aktion. Die Tour wurde unterstützt von der Liga der Wohlfahrtsverbände und dem Deutschen Gewerkschaftsbund Berlin-Brandenburg.

Die häufigsten Probleme, so die Bilanz des Vereins, waren unvollständig übernommene Mieten, mangelnde Beratung in den Jobcentern und Fehler bei der Anrechnung von Einkommen auf Hartz IV. Zwölf Wochen standen BeraterInnen mit einem Bus vor den Berliner Jobcentern und berieten insgesamt rund 2.300 BerlinerInnen. Mit diesem Angebot fängt der Verein nach eigener Angabe ein Versäumnis des Landes Berlin auf: „Das Land finanziert Beratung erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“ sagt Steger.

Mietkosten senken

800 der Beratungsgespräche des Zentrums bezogen sich auf unvollständige Übernahme der Miete. Diese liegen häufig über den seit Mai geltenden Mietobergenzen für BezieherInnen von Hartz IV. Laut Senat betraf dies 2011 100.000 Berliner Haushalte. 65.000 wurden von den Jobcentern aufgefordert, die Kosten zu senken. Dies allerdings, so das Arbeitslosenzentrum, sei häufig gar nicht möglich. 40 Prozent der 65.000 Haushalte bekamen trotzdem nur die Richtwerte bezahlt und mussten für den Rest der Miete selbst aufkommen.

Knapp 500 der 2.300 Gespräche während der Tour bezogen sich auf mangelnde Beratung durch die Jobcenter, so das Arbeitslosenzentrum. Viele der komplizierten Bescheide seien den Betroffenen nicht verständlich erklärt worden. Das Sozialrecht werde immer komplizierter, der Staat reduziere gleichzeitig jedoch seine Beratungspflichten. Ein weiteres Problem sei die Intransparenz bei der Vergabe von Maßnahmen zur Qualifizierung und der fehlende Rechtsanspruch auf wirksame Weiterbildung. Stattdessen, so Steger, würden Menschen zu fragwürdigen Disziplinierungsmaßnahmen verpflichtet. Einzig die Jobcenter können Bedingungen stellen, nicht die Suchenden. „Fördern ist ohne Rechtsanspruch, Fordern ist immer klar geregelt“, sagt Steger.

Außerdem schwierig sind laut der Vorsitzenden des DGB Berlin-Brandenburg, Doro Zinke, die gesunkenen Standards für die Zumutbarkeit von Anstellungen: Vor Hartz IV war es möglich, Jobs mit untertariflicher Bezahlung abzulehnen. Jetzt müssen auch solche angenommen werden, die bis zu 30 Prozent unter Tarif und der ortsüblichen Bezahlung liegen. Kein Wunder also, dass die Löhne weiter sinken und sich das Phänomen der „arbeitenden Armen“ weiter ausweitet.

NIKOLAI SCHREITER