Wundervogel auf Balkon

Der Stolz der europäischen, der deutschen, der Hamburger Luftfahrtindustrie schwebt 18 Minuten lang über der Hansestadt. Und Hunderttausende schauen sich den fliegenden Doppeldecker A380 an

Keine Jubelszenen, kein Entzücken, kein Beifall. Das wäre unhanseatisch

Aus HamburgSven-Michael Veit

Es gibt ihn wirklich. Nicht nur als Zeichnung in Planfeststellungsunterlagen, als Computeranimation in Werbebroschüren oder als Fernsehbild vom Erstflug am 27. April in Toulouse. Der A380, Stolz und Hoffnungsträger der europäischen, der deutschen, der Hamburger Flugzeugindustrie, ist real. 18 Minuten dauerte der Beweis am Samstagnachmittag über Hamburg, Hunderttausende haben ihn gesehen, und Gerhard Puttfarcken, der Chef von Airbus Deutschland, stand auf der Flugzeugwerft Hamburg-Finkenwerder und sprach in Kameras und Mikrophone den unvermeidbaren Satz: „Das ist für uns alle ein großer Tag, auf den wir stolz sein dürfen.“

„Da kommt er“, sagt um 14.57 Uhr Werner Boldsen zu seiner Helene und hebt sein Fernglas in den heiteren Himmel über dem Hamburger Hafen. Von Osten kommt er angeschwebt, direkt über der Elbe, auf seinem Weg zum Airbus-Werk. Unzählige Menschen säumen kilometerlang beide Ufer des Flusses, von der Hafencity bis raus nach Blankenese, Hamburgs Westen ist weitgehend verkehrsberuhigt. Seit 8 Uhr morgens sind die Straßen gesperrt, verlängerte S-Bahnen fahren im Minutentakt, alle verfügbaren Busse sind unterwegs, um der Schaulustigen Herr zu werden.

Etwa 1.000 mögen es hier sein auf dem Altonaer Balkon, der Grünanlage auf dem nördlichen Geesthang über dem Fluss mit freiem Blick auf den von links nach rechts gemächlich passierenden fliegenden Doppeldecker. In 500 Meter Höhe brummt das weltgrößte Passagierflugzeug vorbei, und Helene Boldsen sagt: „Ganz schön dick.“ Gedrungen wäre vielleicht besser, oder leicht korpulent. Indigniert lässt ihr 66-jähriger Gatte, der mal Außenhandelskaufmann war und Flugzeug-Fan ist, „so lange ich denken kann“, kurz sein Fernglas sinken: „Quatsch. Einfach nur schön.“

„Wech isser“, wird die 64-jährige Hausfrau eine gute Viertelstunde später sagen, „woll‘n wir ein‘ Kaffee?“ Meist schweigsam haben die Leute hier 30 Meter über der Elbe die Flugshow bewundert. Ein paar Schleifen hat der 72,7 Meter lange Airbus gedreht, hauptsächlich direkt über der Airbuswerft am Südufer, etwa vier Kilometer entfernt und dennoch unübersehbar. Erstaunlich enge Kurven ist er geflogen, bis auf 150 Meter ist er runtergegangen über dem Werk, das eigens für ihn auf das Elbbiotop Mühlenberger Loch planiert wurde. Eine große Kurve über Altona hat er noch gemacht, direkt über der Redaktion der taz hamburg und der nicht weit entfernten Kanzlei von Peter C. Mohr und Rüdiger Nebelsieck, den Anwälten der etwa 200 Menschen, die dagegen vor Gericht gezogen sind, dass die Werkspiste für den Riesenflieger bis hinein ins Obstbauerndorf Neuenfelde verlängert wird. Und dann, um 15.15 Uhr, ist er Kurs Südwest zurück ins südfranzösische Toulouse, wo er gebaut wurde.

Es gibt keine Jubelszenen hier auf dem Altonaer Balkon, keine Entzückensschreie, keine Beifallsstürme, anders als drüben im Airbus-Werk, wo sich allein 150.000 Menschen beim Tag der offenen Tür gedrängt haben sollen. Die Agenturen überschlagen sich tags darauf in euphorischen Korrespondentenberichten, das dritte TV-Programm des NDR zeigt in einer Sondersendung einen Airbus-Mitarbeiter samt Familie, der mit Tränen in den Augen auf den Wundervogel starrt, der da über ihn hinwegschwebt. Und einen Airbus-Chef, der 750 neue Arbeitsplätze noch in diesem Jahr in Aussicht stellt, zusätzlich zu den rund 2.000, die der Konzern dem Hamburger Senat versprochen hatte, wenn der den Ausbau der Flugzeugwerft politisch durchsetzt und auch die Gegner juristisch in die Knie zwingt.

Im Oktober bereits soll erstmals ein A380 aus Toulouse in Hamburg-Finkenwerder landen. Da bekommt er die Inneneinrichtung für mindestens 555 Passagiere, und die Außenhülle wird hier nach den Wünschen des Kunden lackiert werden, etwa 1.500 Quadratmeter Fläche allein das.

Und im nächsten Jahr soll der Bau an der Piste beginnen, denn bis Mitte 2007 müssen Hunderte Hektar Obstplantagen unter 589 Meter neuer Landebahn verschwunden sein, zum Wohle des europäischen, des deutschen, des Hamburger Luftfahrtstandortes. 159 Bestellungen liegen bereits vor, zum Stückpreis von 237 Millionen Euro, dagegen kann man schlecht mit Äpfeln, Süßkirschen und Höfen argumentieren, die seit hunderten von Jahren in Familienbesitz sind.

Die hier oben auf dem Hang wissen um diesen Konflikt, jeder in Hamburg weiß das, und zucken die Schultern. Kein Grund, sich aufzuregen, aber auch kein Grund, das Flugzeug über ihren Köpfen anzuhimmeln. So ist das eben, da verlieren Hamburger nicht die Contenance. Das wäre auch unhanseatisch.

„Jo“, sagt Werner und verstaut sein Fernglas, „Kaffee ist gut.“