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Ein Käfer am Baum sein

Magdalena Jagelke erzählt in ihrem Debüt auf radikale und poetische Weise von den Folgen einer ungeheuerlichen Kränkung

Von Carola Ebeling

Der Titel lässt aufmerken: „Ein gutes Verbrechen“ – was nur könnte denn ein solches sein? Die 1974 in Polen geborene und seit Mitte der 80er Jahre in Deutschland lebende Autorin Magdalena Jagelke hat, um es gleich zu sagen, mit dem Krimi-Genre nichts am Hut. Sie legt aber gleich zu Beginn ihres eigensinnigen Debüts in einer Vorbemerkung eine Fährte: „Protagonistinnen und Protagonisten in Extremsituationen, von Schakalen, Hunden, Wölfen, Gazellen, Bären oder anderen Tieren aufgezogen, in den Kellern der Welt zu Hause, als von der Wissenschaft dokumentierte Fälle oder in der Kunst. […] Werden wir, auf welche Art auch immer, verletzt, dann schreit es in unseren Köpfen, es geht mit uns durch.“

Damit ist die Inspirationsquelle umrissen: Die vielen Erzählungen von belegten und zweifelhaften Fällen von aufgefundenen Kindern, die bei oder mit Tieren „aufwuchsen“ – und sich wie diese verhielten: auf allen Vieren gingen, bellten, kratzten, der sogenannten Zivilisation völlig entfremdet. Zwischen faszinierender Legende und erschütternden Fällen brutaler Vernachlässigung changieren die Geschichten der sogenannten wilden, der Wolfskinder.

Vor diesem Hintergrund entwirft Jagelke eine Art literarische Fallstudie. Ihre Ich-Erzählerin Tara, die sich selbst Princess nennt, wächst allerdings zunächst mit ihrer Mutter auf – doch als sie 14, vielleicht 15 Jahre alt ist, verlässt diese sie: „Mutter kochte selten und nahm mich kaum in den Arm. Sie tanzte auf den Illustrierten, die für Hausfrauen gedruckt werden. Erst verließ sie Vater und später mich, sie sagte: „‚Du bist alt genug‘, griff nach ihrem Mantel und ging einfach aus der Tür.“ Tara ist von nun an auf sich allein gestellt.

Von Anfang an durchweht den Text – am ehesten vielleicht eine Novelle, der Verlag verzichtet klugerweise auf eine Gattungsbezeichnung – eine Atmosphäre des Unwirklichen und Rätselhaften: „Mein Name ist Princess, und das ist die Wahrheit. Ich habe meinen Selbstmord überlebt. Ich stand im nach Tod stinkenden Morast, hatte Angst, darin zu versinken. Ich schrie ob der hellen Sonne am Himmel. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, wenn ich aufwachte. […] Mutter würde da sein und wäre freundlich wie noch nie. Ich würde anders sein, ein Käfer vielleicht oder ein Blatt am Baum.“

Es spricht hier die erwachsene Tara, die folgenden knapp 120 Seiten entfalten sich als Rückschau. Darin wird es viel um Angst gehen. Um eine immer mächtiger werdende Vereinzelung. Eine große Liebes(sehn)sucht ist deren andere Seite.

Reale Momente vermischen sich mit poetisch-fantastischen, die Sprache sinnt nicht auf psychologische Ausleuchtung, viel mehr auf Verdichtung, Assoziation, Bildhaftigkeit – um die unsägliche Verletzung, das Verbrechen, das an Tara verübt wurde, sagbar zu machen. Und nein, es ist kein gutes Verbrechen, wie eine Anwältin für Familienrecht, die Tara aufsucht, es einmal formuliert, sie damit vor den Kopf stößt; weil es sie vielleicht doch freier gemacht habe, unabhängiger.

Jagelke dreht die Geschichte der Wolfskinder quasi um, erzählt sie in anderer Reihenfolge: Ihre Protagonistin wuchs mehr schlecht als recht behütet auf – und fällt nun immer mehr aus der Zivilisation heraus. Das in der Vorbemerkung erwähnte Schreien im Kopf wird lauter; Stimmen, die statt anderer Menschen mit Tara sprechen, nehmen sich immer mehr Raum. Und die Lesenden können, wie in einem Sog, die Welt nur durch ihre Augen sehen: verzerrt, absurd, manchmal aber auch schrecklich klar.

Trost gibt es nicht bei den Menschen. Vielleicht aber in der Natur, vielleicht im Schein des Mondes. Und die vielen Hunde – mit fortschreitender Lektüre erschließt sich ihre Bedeutung als Kreaturen, mit denen Tara innig verbunden ist. Dann scheint gar ein Vogel zu ihr zu sprechen. Am Ende steht eine Tat, über die hier nicht mehr verraten werden soll.

Zu entdecken ist mit diesem Debüt eine eigenwillige Autorin. Die Idee der verkehrt herum erzählten Wolfskinder-Geschichte überzeugt, verschafft sie Jagelke doch den nötigen Freiraum, auf radikale und poetische Weise von den Folgen einer ungeheuerlichen Kränkung zu erzählen.

Magdalena Jagelke: „Ein gutes Verbrechen“. Voland & Quist, Dresden/Leipzig 2018, 120 Seiten, 16 Euro

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