Das Pfeifen im Wald

Heute beginnen in New York die US Open. Der Sieger bei den Männern steht schon so gut wie fest und heißt Roger Federer. Bei den Frauen lässt sich eine Vorhersage nur schwer treffen

AUS NEW YORK DORIS HENKEL

Schwer zu sagen, wer mehr Spaß hatte: 10.000 quietschfidele Kids auf den Rängen oder vier quicklebendige Große beim Ringelreihen auf dem leuchtend blau gestrichenen Tennisplatz. Da amüsierten sich Roger Federer und Martina Navratilova auf der einen Seite, Rafael Nadal und Anna Kurnikowa auf der anderen, und es sah genau so aus, wie man es sich bei dieser Konstellation denken kann: Federer ließ sich von Navratilova anfeuern und heimste deren Bewunderung ein, Nadal verschenkte sein nettestes Lächeln an Kurnikowa, die sich ihrerseits einen Blick auf das neue hautenge, ärmellose Tennishemd und die Muskeln des spanischen Helden gönnte. Gut möglich, dass sie dachte, wie bedauerlich es unter diesen Umständen sei, wegen ihres lädierten Rückens auf die Dauer nicht mehr dabei sein zu können. Wie auch immer: Die Stimmung war prächtig am Kindertag zur Einstimmung auf die US Open, doch jetzt ist Schluss mit lustig. Heute um 11 Uhr Ortszeit beginnt in New York das vierte und letzte Grand-Slam-Turnier des Jahres, dotiert mit einem Rekord-Preisgeld von insgesamt 5,69 Millionen Dollar.

Und es gibt wohl keinen der 127 Konkurrenten – nicht Lleyton Hewitt, Marat Safin, Andre Agassi oder Rafael Nadal –, der bei der Frage nach dem Favoriten nicht Federers Namen nennen würde. Vielleicht wäre das ohne dessen Titelgewinn vor zwei Wochen beim Turnier in Cincinnati, Nummer neun in diesem Jahr, ein klein wenig anders. Aber wie sollen sie sich Hoffnungen machen, wenn der Meister aller Klassen nach einer Fuß-Verletzung und sechs Wochen Pause fast auf dem gleichen Niveau weiterspielt wie davor zuletzt beim dritten Sieg in Wimbledon?

Groß und stabil ist des Titelverteidigers Zuversicht, und die anderen pfeifen im dunklen Wald. Oder sie rufen: Hallo, ich will nicht, dass der Wald dunkel ist. So wie Andy Roddick, der im Finale von Cincinnati die fast schon traditionelle Niederlage gegen den Schweizer kassierte und dennoch versucht, den Mut nicht sinken zu lassen. „Roger hat schließlich in diesem Jahr in zwei von drei Grand-Slam-Turnieren verloren“, sagt er, „also ist es möglich.“ In Melbourne war es Safin, der das nach Abwehr eines Matchballes im Halbfinale schaffte, bei den French Open in Paris war es, ebenfalls im Halbfinale, Nadal. Nummer drei in der exklusiven Liste der Bezwinger in diesem Jahr ist der junge Franzose Richard Gasquet, der im Viertelfinale des ATP-Turniers in Monte Carlo gewann.

Nicolas Kiefer hat in diesem Jahr immerhin zwei Sätze gegen Federer gewonnen, einen zuletzt in Cincinnati, und er schöpft weiter Hoffnung aus der Tatsache, bei den Begegnungen jedes Mal einen guten Eindruck hinterlassen zu haben. Die Wege der beiden könnten sich auch diesmal wieder kreuzen, aber dazu müsste Kiefer erst mal drei Spiele gewinnen. Das hat er auf dieser Ebene zuletzt bei den French Open geschafft, allerdings mit einem schmerzhaften Ende und Aufgabe vor dem Spiel im Achtelfinale gegen den inzwischen wegen Dopings gesperrten Argentinier Guillermo Canas.

Diese vierte Runde in Paris und Philipp Kohlschreibers vierte Runde zu Beginn des Jahres bei den Australian Open sind die besten Ergebnisse der deutschen Kandidaten bei den Grand-Slam-Turnieren 2005.

Alle nationalen Spitzenkräfte sind in New York dabei, in mehr oder weniger stabiler Verfassung wie Tommy Haas oder Rainer Schüttler, denen es an Matchpraxis fehlt, oder mit neuer Zuversicht wie Florian Mayer, der Anfang August in Sopot zum ersten Mal im Finale eines ATP-Turniers spielte. Insgesamt neun Männer des DTB und vier Frauen, als Letzte qualifizierten sich Tobias Summerer Sandra Klösel und Martina Müller.

Apropos Frauen. Wenn es im Gemischtwarenladen dieser Saison eine Favoritin auf den Titel in New York gibt, dann vielleicht Lindsay Davenport. Die gewann am Samstag beim letzten Test in New Heaven den Titel und beendete damit nach nur einer Woche die Zeit von Maria Scharapowa an der Spitze der Weltrangliste. „Egal“, sagt die Russin dazu, „nicht viele Leute können behaupten, dass sie die Nummer eins der Welt waren. Selbst für eine Stunde ist es ein tolles Gefühl.“ Ja, es kann nicht schaden, den Wert einzelner Stunden beizeiten zu erkennen.