Sieger, die zu Verlierern wurden

Es waren Arbeiter, die die bürgerlichen Klassenstaaten schufen. Und es waren Arbeiter, die 1980 mit der Solidarność den Polen erst Freiheit, dann den Neoliberalismus brachten

Die Teilnehmer des Solidarność- Aufbruchs gewannen im Jahre 1989 die politische FreiheitDiese blieb jedoch eine Phrase, weil es keine materiellen Möglichkeiten gab, sie zu nutzen

Anfang September 1980 notierte Ryszard Kapuczinski: „Zwölf Augusttage an der Küste. Stettin, dann Danzig und Elbing. Ruhige Stimmung in den Straßen, jedoch konfliktgeladen und gespannt, vorherrschend Ernsthaftigkeit und Gewissheit, geboren aus dem Gefühl im Recht zu sein. Städte mit einer neuen Moral.“

Aus Solidarität mit der Danziger Werft schloss sich eine Belegschaft nach der anderen dem Streik an. Im gemeinsamen Protest waren nicht nur die Arbeiter in den Fabriken, sondern weitere soziale Gruppen vereint. Die Intellektuellen stellten sich an die Seite der Arbeiter, die Bauern schlossen sich an. Sie gründeten den Verband NSZZ Solidarność der Einzelbauern. Sogar in der Kommunistischen Partei, in der regimetreuen Presse, in anderen bislang dem Regime zugehörigen Milieus, begann man sein Gewissen zu befragen. Der revolutionäre Impuls erreichte alle und änderte alles. Kapuczinski beschreibt sogar eine grundlegende Veränderung im alltäglichen Verhalten der Polen. Es war, als sei die Gesellschaft aus einem Traum erwacht.

Das sich explosionsartig ausbreitende Virus Solidarität attackierte das Unterdrückungssystem im Kern. In den so genannten Volksdemokratien hatte die Partei die gesamte öffentliche Sphäre monopolisiert und auf diese Weise verhindert, dass ein über den Einzelnen hinausgehender Wille, ein kollektives Bewusstsein entstehen konnte. Die Partei zerschlug alle gesellschaftlichen Bindungen, erstickte jeden Protest im Keim. Die Menschen waren vereinsamt und hilflos angesichts der Übermacht des Systems. Deshalb führte die Solidarität zwischen den Fabriken automatisch zu einer Umwandlung des ökonomischen in einen politischen Protest. Die streikenden Arbeiter forderten Redefreiheit, Freilassung der politischen Gefangenen, unabhängige Gerichte, Zugang zu den Massenmedien. So entstand die in der Geschichte größte, gesellschaftlich organisierte, gewaltlos agierende Protestbewegung in einem autoritären Staat. Die Unterzeichnung des Abkommens mit der Regierung am 31. August 1980 war der Beginn des sechzehn Monate anhaltenden „Karnevals der Solidarität“ vor den Augen der Welt.

Die Revolution wurde von Arbeitern geführt. Nur sie konnten sich der Kommunistischen Partei, die sich immer als die Verkörperung der Interessen des Proletariats deklariert hatte, erfolgreich entgegenstellen. Die bisherigen Oppositionellen, an der Spitze das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und die Kirche konnten nur die Rolle von Beratern einnehmen. Die Revolution der Solidarność folgte der Losung vom demokratischen Sozialismus, im offiziellen Programm der Gewerkschaft berief man sich vor allem auf die Idee der Arbeiterselbstverwaltung. Die Gewerkschaftsfunktionäre, auch Wałesa, betonten: Zum Kapitalismus kehren wir mit Sicherheit nicht zurück. Ähnlich dachten Berater wie Jacek Kuroń, Tadeusz Mazowiecki oder Adam Michnik. Und dabei handelte es sich keineswegs nur um eine Taktik, die darin bestand, auf keinen Fall die sowjetische Dominanz und die führende Rolle der Kommunistischen Partei in Frage zu stellen, sondern vielmehr darum, das bis dahin darniederliegende Recht auf freie Gewerkschaften und die in der Verfassung beziehungsweise in internationalen Verträgen garantierte Redefreiheit zu verwirklichen. Und das war keine ideologische Camouflage, sondern die tatsächliche Meinung aller Mitglieder. So blieb es bis 1989, einschließlich der Festlegungen am Runden Tisch.

Schaut man sich an, was danach geschah, fallen einem Worte des Ökonomen Oskar Lange aus dem Jahr 1931 ein: „Als nach dem Krieg in allen Ländern Mitteleuropas, in Deutschland, Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, in Polen die letzten Reste des Ancien Regime zusammenbrachen, als auf den Trümmern der Monarchien der Hohenzollern, Habsburger und Romanows bürgerlich-demokratische Republiken entstanden, war es die Arbeiterbewegung, die sie schuf. Sie war nicht stark genug, um einen proletarischen Klassencharakter durchzusetzen, sie konnte nicht verhindern, dass bürgerliche Staaten entstanden. Eine tragikomische Situation (…): Arbeiterparteien schufen Republiken, die soziologisch gesehen bürgerliche Klassenstaaten waren.“ So verhielt es sich auch mit der Revolution der Solidarność. Der durch sie geschaffene Staat zählt zu den ungerechtesten im zeitgenössischen Europa – mit seiner sich rasend schnell ausbreitenden ökonomischen Ungleichheit, mit dem sich alltäglich vollziehenden Einreißen der Arbeitnehmerrechte, mit der größten Arbeitslosigkeit auf dem Kontinent und der Dominanz der neoliberalen Ideologie in den wichtigsten Medien. Die Teilnehmer des Solidarność-Aufbruchs gewannen im Jahre 1989 die politische Freiheit. Diese blieb jedoch eine Phrase, weil es keine materiellen Möglichkeiten gab, sie zu nutzen.

Im Kommunismus kursierte ein Witz, in dem es um die Heuchelei der Machthaber ging. Die hätten erklärt: „Die Preise seien im allgemeinen gleich geblieben. Zwar müsse man für Brot, Milch und Fleisch mehr zahlen, aber dafür seien die Lokomotiven billiger geworden.“ Der Nutzen, den die Leute aus dem Gewinn der Unabhängigkeit im Jahre 1989 ziehen konnten, erinnert an die Geschichte mit den gesunkenen Preisen der Lokomotiven. Leider wird darüber bei den 25-Jahr-Feiern des polnischen August kaum gesprochen, selten erinnert man an die Millionen unterlegener Sieger.

Diese Millionen wurden von ihren eigenen Führern im Stich gelassen. Die waren davon überzeugt, dass es sich um unvermeidbare Kosten der Systemtransformation handle und keine Alternative zur neoliberalen Schocktherapie gebe. Aber das blieb nicht das einzige Unglück. (Der Gerechtigkeit halber muss man daran erinnern, dass Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre die Auffassung vom „Ende der Geschichte“ und von der Alternativlosigkeit des ökonomischen Liberalismus vorherrschte.) Ein weiteres Unglück ergab sich als Nebeneffekt des friedlichen Machtverzichts durch die Kommunisten, denen so die Rolle der Linken zufiel, definitionsgemäß dazu verpflichtet, die Interessen der arbeitenden und armen Schichten zu vertreten. Diese Rolle konnten sie nicht ausfüllen. Die Postkommunisten waren Leute ohne Ideale. Sie waren der Kommunistischen Partei nicht beigetreten, um irgendwelche politischen Ideen zu verwirklichen, sondern um private Interessen zu verfolgen oder um an der Macht teilzuhaben. Sie unternahmen nie den Versuch, die als Ergebnis der Transformation ökonomisch Ausgeschlossenen zu verteidigen. Da sie sich nach dem Machtverlust bedroht fühlten, versuchten sie sich den damals von der freien Marktwirtschaft faszinierten Solidarność-Eliten anzugleichen und in der neuen Wirklichkeit Fuß zu fassen. So wurden viele Sieger des August erneut zu Objekten und nicht zu Subjekten in ihrem Staat. Sie wurden sich selbst überlassen. Und auch die Solidarität unter ihnen verschwand.

SLAWOMIR SIERAKOWSKI

Aus dem Polnischen von Ruth Henning