Musenkuss im Autobus

Georgiens Busfahrer dürfen nicht dichten

Eines der dunkelsten Kapitel der georgischen Geschichte ist der vergessene Streik der Busfahrer von Tiflis. Seit sage und schreibe 27 Jahren streiken sämtliche Bus-Chauffeure in der georgischen Hauptstadt. Das hat einen außergewöhnlichen Grund, denn im Jahr der staatlichen Unabhängigkeit Georgiens 1991 entschlossen sich die Busfahrer, gegen die bereits zu Zeiten des Sowjetregimes herrschende Unterdrückung ihrer poetischen Fähigkeiten zu protestieren. Georgische Busfahrer lieben Poesie. Gedichte sind ihr Ein und Alles. Während ihrer Fahrten im Liniendienst dichten sie, um an der Endhaltestelle ihre Fahrgäste mit dem neuesten Poem zu erfreuen. Vorher darf auch keiner aussteigen. Unter den Sowjets war das Busdichten verboten und musste heimlich geschehen. Aber auch im neuen Georgien war die dichterische Leidenschaft der Busfahrer nicht gern gesehen. Die mangelnde Konzentration auf den Verkehr und die ausschließliche Besinnung auf Reim, Rhythmus und Versmaß während der Fahrt könnten nicht hingenommen werden, hieß es aus dem Verkehrsministerium. Seither streiken die Busfahrer. Für ihre Gedichte. Gegen die Unterdrückung der Poesie. Deshalb lauten die berühmtesten Verse Georgiens: „Dem Genius im Autobus / verboten ist der Musenkuss.“