die woche in berlin
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Am 3. Oktober feiern Hunderttausende Berliner, marschieren Nazis und protestieren die Jugendämter. Derweil sinkt die SPD in Umfragen weiter ab

Berlin ist anders als Dresden

Zentrale Einheitsfeier am Brandenburger Tor

Anders sein, das hatte sich Berlin auch zum Tag der Deutschen Einheit vorgenommen. Schließlich richtete Rot-Rot-Grün 2018 die zentrale Feier aus. Zwei Jahre zuvor war sie in Dresden vom Pegida-Pöbel und von „Merkel muss weg“-Geschrei überschattet worden.

Anders sein ist auf der anderen Seite natürlich nicht nur Chance, sondern auch Bürde. Ideen, den Tag der Einheit dezentral in den Bezirken stattfinden zu lassen, um die „Einheit in Vielfalt“ vor Ort zu feiern, waren schnell vom Tisch. Wer gibt schon gerne Fernsehbilder mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund auf?! Also beschränkte sich das Anderssein auf die Angebote, die Berlin auf der traditionellen Festmeile zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern realisieren würde.

Gut gewählt war das Motto, auch wenn es auf den ersten Blick belanglos klang. Doch „Nur mit Euch“ heißt eben auch: Die Bürgerinnen und Bürger werden im Mittelpunkt stehen. So war etwa die Ausstellung „Halbzeit“ über die Berliner Geschehnisse zwischen Mauerfall und Vereinigung jenen gewidmet, die diese Zeit geprägt hatten.

Die Botschaft „Nur mit Euch“, bilanzierte am Donnerstag auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), sei angekommen: „Berlin praktiziert Vielfalt und friedliches Zusammenleben im Alltag. Berlin steht als Hauptstadt für ein liberales und weltoffenes Deutschland, in dem alle dazugehören.“

Tatsächlich kam es am Mittwoch nicht zu Szenen wie in Dresden, auch wenn die rechte Szene für ihre Demo mehr als 1.000 Teilnehmer mobilisieren konnte. Aber ebenso viele Menschen demonstrierten dagegen. Wie wichtig den Berlinerinnen und Berlinern „Vielfalt und friedliches Zusammenleben im Alltag“ tatsächlich ist, wird sich wohl erst bei der #­unteilbar-Demonstration am 13. Oktober zeigen.

Die Festmeile auf der Straße des 17. Juni haben im Übrigen 600.000 Menschen besucht, erwartet worden war eine Million. Die Kosten beliefen sich nach Angaben des Senats auf 4,5 Millionen Euro. In Sachsen hatte das Fest 2016 4,3 Millionen gekostet. Uwe Rada

Sie haben Beachtung verdient

Massive Personalnot in den Jugendämtern

Es gibt Dinge, die dauern einfach länger als fünf Minuten. Zumindest, wenn man sie vernünftig erledigen will, und da sollte der Kinderschutz dazugehören. Tatsächlich sind Berlins Jugendämter aber seit Jahren überlastet. Besonders schlimm ist es ausgerechnet bei den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten (RSD), die zum Beispiel Kindern in familiären Krisensituationen helfen sollen. 100 Fälle pro Fachkraft seien da keine Seltenheit, berichtet die Gewerkschaft Verdi. Man kann sich ausrechnen, wie viel Zeit da für den einzelnen „Fall“, also das einzelne Kind bleibt.

Die Misere der Jugendämter ist keine neue Nachricht. Doch jedes Mal aufs Neue verdienen die MitarbeiterInnen der Jugendämter Beachtung, wenn sie deswegen auf die Straße gehen – wie zuletzt am Mittwoch, als sie auf dem Alexanderplatz gegen die Personalnot demonstrierten. Die Bezirke bekommen ihre offenen Stellen in der Jugendhilfe auch deshalb nicht besetzt, weil diese Arbeit ein Knochenjob ist: Die SozialarbeiterInnen sitzen vor Aktenbergen, die sie nicht bezwingen können, und werden dafür schlecht entlohnt. Eine Kreuzberger Lehrerin berichtete der taz von ständig wechselndem Personal, mit dem sie es im Jugendamt zu tun bekommt, etwa wenn sie für einen Schüler Sozialtherapie beantragen will. Offenbar hält den Job niemand lange durch.

Dass sich etwas ändern muss, hat man auch in den zuständigen Senatsverwaltungen erkannt. Im Januar steht die nächste Tarifrunde für den öffentlichen Dienst an, und man sei sich mit der Finanzverwaltung einig, heißt es aus der Behörde von Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD): „Der Schritt nach vorne bei der Bezahlung muss kommen.“ Derzeit sind die RSD-MitarbeiterInnen in die Entgeltstufe 9 eingruppiert, das entspricht einem Monatsbrutto von 2.750 Euro. Andere Bundesländer zahlen bis zu 600 Euro mehr.

Mehr Geld ist meistens gut. Aus diesem Grund interessant ist ein neuer dualer Studiengang Kinder- und Jugendhilfe, der zum Wintersemester anläuft: Die Studis absolvieren ihren Praxisteil in den Jugendämtern und bekommen dafür eine Ausbildungsvergütung. Etwas, das Gewerkschaften schon lange auch für eine andere chronisch überforderte wie unterbezahlte Berufsgruppe fordern: die ErzieherInnen. Anna Klöpper

Weit entfernt von Chemnitz

Rechtsextreme am Tag der Deutschen Einheit

Rund 1.300 Rechtsex­treme sind am Mittwoch durch Berlin marschiert. Am Hauptbahnhof wunderten sich Touristen darüber, zum Tag der Deutschen Einheit in Berlin von aggressiven Neonazis begrüßt zu werden; auf ihrer Route zogen die Rechten durch den Torstraßenkiez an linken Läden wie dem Schokoladen vorbei.

Das ist nicht schön. Und man muss es ehrlicherweise als Erfolg für die Rechten werten, denn das Veranstalterbündnis „Wir für Deutschland“ hatte zuletzt nur noch wenige Hundert Menschen zur Teilnahme bewegt. Dass es am 3. Oktober wieder deutlich mehr waren, dürfte nicht nur am attraktiven, symbolträchtigen Datum gelegen haben. Die Ereignisse von Chemnitz und Köthen, wo es Rechtsextremen in den vergangenen Wochen fast mühelos gelang, den öffentlichen Raum unter ihre Kontrolle zu bringen, werden auch in der rechten Szene Berlins und Brandenburgs als Erfolge gefeiert. Und Erfolge motivieren.

Trotzdem: Am Mittwoch wurde ebenfalls deutlich, dass Berlin für Neonazis nach wie vor alles andere als ein Heimspiel ist. Auch hier gab es unschöne Szenen, vereinzelte Hitlergrüße und aggressive Pöbeleien. Aber anders als etwa in Chemnitz treten Rechts­ex­tre­me hier doch deutlich weniger selbstbewusst auf. Das liegt vor allem daran, dass die mehr oder weniger stille Unterstützung aus der Anwohnerschaft fehlt. Stattdessen gibt es Gegenprotest: Obwohl dieses Mal kaum mobilisiert wurde, nahmen mehr als 1.000 Menschen an einer Anwohnerkundgebung entlang der Strecke teil. Auch am Rest der Route standen immer wieder Ge­gen­de­mons­tran­ten, von einem Balkon aus wurde Wasser auf die rechtsextreme Demonstration gekippt.

Das ist kein Massenprotest. Aber für die Frage, wie sicher sich Rechtsextreme auf der Straße fühlen können, wie selbstverständlich sie den öffentlichen Raum besetzen, sind auch solche Aktionen entscheidend. Die Rechten konnten am Mittwoch also einen Erfolg verbuchen, aber einen überschaubaren. Sorgen macht allerdings noch etwas anderes: Die rot-rot-grüne Regierung hatte im Koalitionsvertrag versprochen, sich für Gegenproteste in Hör- und Sichtweite einzusetzen, inklusive der rechtzeitigen Veröffentlichung rechtsextremer Aufmarschrouten. Das Gegenteil ist der Fall: Dass die Routen erst kurz vor knapp veröffentlicht werden, ist mittlerweile genauso der Normalfall wie die äußerst weiträumige Absperrung der Routen. Entweder die rot-rot-grüne Koalition hat ihr Versprechen vergessen, oder sie kann sich gegenüber Polizei und Versammmlungsbehörden nicht durchsetzen. Beides spricht nicht gerade für sie.

Malene Gürgen

Wie wichtig den Berlinern die Vielfalt in der Stadt tatsächlich ist, wird sich wohl erst bei der #unteilbar-Demo am 13. Oktober zeigen

Uwe Rada über die Feier zum 3. Oktober und den Kampf gegen rechts

Koalition aus dem Gleich­gewicht

Umfragen sehen SPD als künftigen Juniorpartner

Koalitionen aus drei Parteien sind fragile Gebilde. Erst recht, wenn die Hierarchie untereinander unklar ist, zum Beispiel weil alle drei gleich stark (oder schwach) sind oder ein Partner einbricht. In Berlin ist beides der Fall. Die SPD, bei der Wahl im September 2016 noch stärkste Kraft, ist laut Umfragen von ihren damals 21,6 Prozent auf 16 bis 17 Prozent abgerutscht, somit nur noch viertstärkste Partei und in der Koalition zu einer Art informellem Juniorpartner geschrumpft. Laut der am Montag von Forsa und Berliner Zeitung veröffentlichten jüngsten Erhebung stabilisieren sich derweil die Linkspartei bei 22 Prozent und die Grünen bei 18 Prozent.

Das institutionelle Machtgefüge, also etwa die Zahl der Senatoren, spiegelt natürlich noch das Wahlergebnis von 2016 wider. Deswegen rumort es sowohl in der SPD wie der Linkspartei. Erstere, unter Partei- und Regierungschef Michael Müller, wirkt zunehmend rat- und hilflos, wie sie den freien Fall stoppen kann; Letztere lässt, motiviert durch die Umfragen, in internen Runden immer mal wieder die Muskeln spielen. Die Grünen wiederum mahnen, die Linke möge nicht überreizen, denn eine stark geschwächte, von inneren Kämpfen erschöpfte Sozialdemokratie könne nicht im Interesse dieser Koalition sein.

Allerdings ist die bisweilen artikulierte Furcht, die SPD könne mitten in der Legislaturperiode hinschmeißen und das rot-rot-grüne Projekt beenden, unbegründet: Warum sollte die Partei ihren ersten Platz in der Wählergunst nicht so lange wie möglich – sprich bis Herbst 2021 – genießen? Besser wird es nicht mehr. Das Problem besteht eher umgekehrt: Weil die SPD nicht hinschmeißt, entspricht das Machtgefüge innerhalb der Koalition nicht mehr der gefühlten Realität.

Vor diesem Hintergrund ergibt die Warnung der Grünen in Richtung der Linken Sinn: Statt übermütig zu werden, können beide ihre politischen Projekte vorantreiben und darauf hinarbeiten, in drei Jahren vielleicht sogar als Duo die Regierung stellen und die SPD in die wohlverdiente Opposition schicken zu können. Geht es mit den Umfragen so weiter wie bisher, ist das durchaus drin. Bert Schulz