In die Schule lockt das Essen

Die Schule im indischen Bundesstaat Bihar hat kein Dach, keine Türen und keine Pulte für die SchülerDie Einschulungsrate in Bihar geht zurück. Nicht mangels Nachfrage, sondern mangels Angebot

aus Bihar BERNARD IMHASLY

Die Grundschule von Bairya ist leicht zu finden. Schon von weitem hört man vom Pausenplatz her ein Durcheinander von Kinderstimmen. Beim Näherkommen stellt man allerdings fest, dass der Platz leer ist und der Lärm aus den fünf Schulräumen dringt. Und dass er von so weit weg zu hören ist, hat wohl weniger mit den fehlenden Türen zu tun, als mit den fehlenden Dächern. Das Schulgebäude für 260 Kinder ist eine frühere Indigo-Fabrik aus dem 19. Jahrhundert. Die von Alter geschwärzten Grundmauern sind mit Stahlträgern notdürftig stabilisiert worden, doch für das Dach, so meint einer der zwei Lehrer, waren die Seitenwände zu wenig stark; oder vielleicht fehlte das Geld. Dieses fehlte jedenfalls für Schulbänke in den vier untersten Klassen. Sie sind in zwei Räumen mit je achtzig Kindern untergebracht. Sie sitzen dicht gedrängt auf dem Erdboden, ihre Hefte vor sich. In einigen Reihen ist der Platz so eng , dass die Kinder das Heft in der Hand halten müssen, während sie mit der anderen darin schreiben.

Die beiden Lehrer haben ebenfalls kein eigenes Pult, und sie dozieren von den offenen Eingängen aus, was sich auch aufdrängt, da sie ja im Ganzen fünf Schulräume zu überwachen haben. Ihr Pult steht daher mitten auf dem Vorplatz, und ihre beiden Motorräder haben sie daneben abgestellt. Während in den fünf Schulräumen laut geredet und über den Heften gesessen wird, sind sie dabei, die Eintragungen über das Mittagsmahl zu machen, das der Staat täglich allen Schulkindern Indiens spendiert. Es ist eine zusätzliche Bürde für die Lehrer. Zwar ist ein Koch dafür angestellt, und er ist irgendwo im Hintergrund dabei, den riesigen Kochtopf zu schrubben. Doch sie haben den Einkauf von Reis und Dal (Linsen) zu überwachen, und sie müssen darüber Buch führen, wie viele Kinder ihre Mahlzeit bekommen haben.

Das „Midday Meal Scheme“ ist eines der Mittel, mit denen der indische Staat versucht, das „Millennium Development Goal“ bei der Schulbildung zu erreichen, bis 2015 alle Kinder zwischen fünf und zwölf eingeschult zu haben. Die Gratismahlzeit war in südindischen Staaten bereits in den Siebzigerjahren eingeführt worden, und sie ist einer der Gründe, warum dort dieses Ziel heute praktisch erreicht ist. Es ist zweifellos ein cleveres Alphabetisierungsinstrument. Selbst Eltern, die ihre Kinder an sich lieber zu Hause oder auf dem Feld arbeiten lassen, können der Versuchung nicht widerstehen, ein paar Münder weniger stopfen zu müssen. Zudem ist es eine Subvention, die wenig Raum lässt für Korruption. Zwar gibt es immer wieder Berichte über knappe und wässrige Mahlzeiten, über falsche Buchführung und Veruntreuung. Doch die Kombination von Unterricht und Ernährungssicherheit ist für die meisten Familien eine unwiderstehliche Attraktion.

Doch Bairya liegt in Bihar. Der ostindische Bundesstaat gilt als das Armenhaus Indiens. 50 Prozent der ländlichen Bevölkerung leben noch immer unterhalb der Armutsgrenze; sie sind mit anderen Worten nicht fähig, aus eigener Kraft zu überleben. 57 Prozent der ländlichen Bevölkerung über dem Alter von sieben Jahren sind Analphabeten, und nur 3 Prozent erreichen einen höheren Schulabschluss. 86 Prozent der männlichen Erwachsenen unter den landlosen Arbeitern und Kleinpächtern konnten im Zeitraum 1999/2000 weder lesen noch schreiben. Bei den Frauen und Mädchen ist die Situation noch schlimmer. Und als besonders schwerwiegend taxiert ein Bericht der Weltbank den Umstand, dass die Einschulungsrate zwischen 1993 und 2000 um 2 Prozent zurückgegangen ist.

Die übliche Begründung für diesen Zustand lautet: Armut zwingt die Familien, ihre Kinder arbeiten zu lassen, statt sie in die Schule zu schicken; ein Nebenargument: Analphabeten sehen die Nützlichkeit von Schulunterricht nicht ein. Rahul Singh, als „District Magistrate“ der oberste Beamte des Champaran-Bezirks in Nordbihar, lässt diese Gründe nicht gelten: „In den letzten zehn Jahren ist ein grundlegender Wandel erfolgt. Für eine große Mehrheit der Armen ist Schulbildung die einzige Hoffnung, ihre Existenz zu verbessern.“ Diese Einsicht ist in armen Bundesstaaten wie Bihar besonders weit verbreitet, weil Millionen von Männern außerhalb ihres Staats arbeiten müssen – in Südindien, im Punjab, in den Großstädten Kalkutta, Delhi und Bombay. „Auch wenn sie dort nur Handlangerdienste leisten, werden sie im städtischen Umfeld ständig daran erinnert, wie wichtig es ist, schreiben und lesen zu können.“

Was ist der Grund für den Rückgang der Einschulungsrate? „Es ist nicht die mangelnde Nachfrage, sondern das fehlende Angebot“, sagt Singh. Allein dem Bundesstaat Bihar fehlen 111.000 Lehrer. Seit Jahren wurden keine neuen Lehrkräfte angestellt, weil dem Staat das Geld fehlt; oder es melden sich zu wenige Kandidaten, weil sich herumgesprochen hat, dass es oft Monate dauert, bis der Lohn eintrifft. Sariswa Bazar, ein Nachbardorf von Bairya, ist ein Beispiel dafür. Das Schulgebäude sieht besser aus als die Fabrikruine von Bairya – ein langgestreckter einstöckiger Bau mit Fenstern und Türen. Doch die Türen sind geschlossen, die Fenster verrammelt. Der Bauer Mohammed Shahi erklärt den Grund: Es gibt keine Lehrer. Dafür gibt es im Basar mehrere „Coaching Centres“, wo ausgebildete Lehrer Privatunterricht geben. Eines von ihnen nennt sich „Bright Future Coming“. Der Zufall will es, dass wir um die Mittagszeit das Dorf besuchen. Plötzlich strömen aus einer Seitenstraße hunderte von Kindern in den Basar. Sie tragen alle die gleichen „englischen“ Uniformen – dunkelblaue Röcke für die Mädchen, Hosen und dunkelblaue Krawatten für die Knaben.

Sie kommen aus einer Privatschule, die sich am Dorfrand in barackenähnlichen Räumen etabliert hat. Sie sind noch ärmlicher ausgerüstet als jene von Bairya, es gibt keine Gratismittagsmahlzeit, und die Eltern müssen neben den Uniformen und den Schulbüchern auch noch ein Schulgeld von 100 Rupien pro Monat entrichten. Dennoch hat die Schule über 1.000 Kinder, in den Klassen 1 bis 10. Und sie hat 23 Lehrer angestellt, die mit rund 1.500 Rupien (rund 28 Euro) pro Monat zehnmal weniger verdienen als die vom Staat angestellten Kollegen; aber zumindest bekommen sie ihren Lohn. Prabhat Jha, ein Dokumentarfilmer aus Delhi, der in dieser Gegend eine NGO leitet, gibt folgende Begründung: „Es ist die Sicherheit für die Eltern, dass sie ein Kind in die erste Klasse schicken können und dass es bis zur zehnten unterrichtet wird. Bei den staatlichen Schulen weiß man das nie.“

Bairya ist eine Ausnahme, glaubt einer der beiden Lehrer der „Indigo Factory“, wie die Schule im Volksmund heißt; hier würden die Kinder auch ohne das Mittagsmahl in die Schule kommen. Der Grund mag darin liegen, sagt der Journalist Abhay Jha, dass die Mehrheit der Bevölkerung ursprünglich Flüchtlinge waren, die in den Sechzigerjahren hier angesiedelt wurden, als sie aus dem damaligen Ostpakistan (dem heutigen Bangladesch) emigrierten. Dies hat einen starken sozialen Zusammenhalt bewirkt, der dafür sorgt, dass die Dorfgemeinschaft sich für Schulbelange einsetzt. Es war der Dorfrat von Bairya, der dafür gesorgt hatte, dass die Fabrikruine instand gesetzt wurde und das Dorf eine eigene Schule bekam, statt vom Nachbardorf abzuhängen.

Und warum ist in Sariswa Bazar die Schule geschlossen? Der NGO-Vertreter Prabhat Jha zuckt die Achseln. „Vielleicht“, meint er, „hat es mit den Landverhältnissen zu tun.“ In Bairya hatten die Flüchtlinge Land zugesprochen erhalten. „In Sariswa Bazar sind die meisten Bauern Kleinpächter und sind dem Großgrundbesitzer Bagar Yadav ausgeliefert“. Yadav ist ein einflussreicher Politiker und Mafia-Don, auf den eine ganze Reihe von Haftbefehlen ausgestellt sind, die er dank seinen politischen Verbindungen souverän missachten kann. Umso erstaunlicher, meint auch Prabhat Jha, dass die meist schwer verschuldeten Kleinbauern den Mut – und das Geld – aufbringen, ihre Kinder in eine Privatschule zu schicken. Manchmal ist der Hunger nach Schulbildung noch stärker als der Hunger nach einem vollen Magen.