„Meine Handreichung zu dir, lieber Hans“

Oskar Lafontaine lässt die Arbeiterbewegung aufleben, verteidigt die SED-Aufbaugeneration und ehrt die Reformer um Hans Modrow

BERLIN taz ■ Dass er, der ehemalige Vorsitzende der SPD, hier auf diesem PDS-Parteitag rede, sagt Oskar Lafontaine, sei ein historisches Datum. „Ich will es auch nicht überhöhen“, fügt er bescheiden hinzu, „aber es ist doch ein historisches Datum.“ Er sehe seinen Auftritt im Rahmen der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.

Durch die Reihen der vielen jungen Journalisten, die von ihren Zentralen in München und Köln auf diesen komischen Parteitag dieser komischen Partei geschickt worden sind, huscht ein Lächeln. Typisch Lafontaine, denken viele, jetzt macht er’s wieder ganz dicke. Ja, ja, historisches Datum!

Viele der Genossen erinnern sich in diesem Moment natürlich an Pieck und Grotewohl und 1946, alt genug sind die meisten. Und Lafontaine treibt ihnen mit den nächsten Sätzen Tränen der Rührung in die Augen. Das liegt jedoch nicht daran, dass sich der erfahrene Sozialdemokrat mit der für ihn so gewohnten Anrede „Liebe Genossinnen und Genossen“ einen kleinen Heimvorteil verschafft. Lafontaine tut vielmehr das, womit keiner gerechnet hat: Er verteidigt die DDR-Aufbaugeneration samt einer ihrer Symbolfiguren.

„Ich möchte einem alten Partner danken“, sagt Lafontaine, „und zwar Hans Modrow, den ich Anfang der 80er-Jahre das erste Mal getroffen habe. Ich habe bei unserer ersten Begegnung gespürt, lieber Hans, dass du mit deinen Möglichkeiten versucht hast, gegen die stalinistischen Verkrustungen des SED-Systems zu kämpfen.“ Die meisten im Saal wissen natürlich sofort, was damit gemeint ist. Modrow hat sich als SED-Bezirkschef von Dresden oft gegen die Anweisungen der Hardliner im Politbüro um Erich Honecker zur Wehr gesetzt. Er galt Mitte der 80er-Jahre sogar im Westen als Hoffnungsträger für eine Reform der DDR nach sowjetischem Vorbild.

Diese kleine Anspielung ist jedoch noch nicht alles. Der ehemalige SPD-Chef knöpft sich gleich auch noch den nach Dostojewski beliebtesten Russen in Deutschland vor. Er habe kein Verständnis dafür, sagt Lafontaine, dass Michail Gorbatschow im Westen gefeiert werde, man jedoch gleichzeitig einem Mann wie Hans Modrow den Respekt versage. Gorbatschow habe als KPdSU-Generalsekretär machtpolitisch mindestens genauso viel Verantwortung für die Mauer getragen.

Die Genossen im Saal interessiert in diesem Moment nicht, ob Lafontaines Sätze einem eiskalten Kalkül entspringen, um sich in der PDS ein paar Freunde mehr zu machen. Sie wollen erst recht nichts davon wissen, dass Lafontaine und andere SPD-Führer bei ihren DDR-Besuchen Treffen mit Bürgerrechtlern tunlichst vermieden. Und sie haben auch vergessen, dass sich der Saarländer bereits Anfang der 90er-Jahre für einen offenen Umgang mit Ex-SED-Mitgliedern in der SPD ausgesprochen hat. Jetzt zählt die Geste. Sie klatschen Beifall – so viel wie an keiner anderen Stelle seiner Rede. Und Lafontaine ruft in den Jubel hinein: „Ich habe Respekt vor Menschen, die den Kampf in diesem System aufgenommen haben und die heute zu ihren Überzeugungen stehen. Meine Handreichung, zu dir, lieber Hans, und zu den anderen.“ Nach diesem großen Auftritt springt Lafontaine von der Bühne, geht quer durch den Saal und umarmt Modrow – verfolgt von unzähligen Kameras, ganz so, als küsse der Papst gleich heiligen linken Boden.

Als Lafontaine wieder abzieht, steht der PDS-Ehrenvorsitzende allein im Scheinwerferlicht. Er ist gerührt, aber er mag es nicht zeigen. Modrow muss den Journalisten Nachhilfe in deutsch-deutscher Geschichte erteilen. Ja, Lafontaine sei 1982 bei ihm in Dresden gewesen, erzählt er, kurze Zeit später übrigens auch ein gewisser Gerhard Schröder und ein Richard von Weizsäcker, und alle hätten sie gesagt, dass die Gespräche mit ihm viel offener gewesen seien als mit Honecker in Berlin. Das scheint 200 Jahre her zu sein, so sehr ist die kollektive Erinnerung verblasst.

Jetzt schlägt die Stunde der Linkspartei, und was das für die vielen alten Genossen bedeutet, hat Hans Modrow in seiner nachdenklichen Eingangsrede selbst festgestellt: „Die Phase der SED-Nachfolgepartei geht zu Ende, und das ist gut so.“ JENS KÖNIG