Pop-Propaganda

DOKUMENTARTHEATER In Milo Raus Stück „Hate Radio“ geht der ruandische Hass-Sender RTLM als Reenactment noch einmal als beklemmendes Propaganda-Spektakel auf Sendung

Das Böse zeigt sich hier nicht als Banales, sondern als grausames Spektakel

VON ROBERT MATTHIES

„Tod! Tod! Die Gräben sind erst zur Hälfte mit den Leichen der Tutsi gefüllt. Beeilt euch, sie ganz aufzufüllen!“ Mehrmals am Tag hat der ruandische Radiosender Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) als Sprachrohr der rassistischen Hutu-Power-Ideologen während der Massaker an Tutsi und gemäßigten Hutus im Frühjahr und Sommer 1994 seinen Mordaufruf gesendet. Massaker, die der Sender selbst maßgeblich koordiniert hat: Monatelang hatte das vielleicht wichtigste Mordwerkzeug des Genozids, dem bis zu einer Million Angehörige der Tutsi-Minderheit zum Opfer fielen, den Mord mit einem aggressiven Programm mit kongolesischer Popmusik, Sportberichten und rassistischer Propaganda vorbereitet und sprachlich vorweggenommen.

In seinem Dokumentartheater-Projekt „Hate Radio“ lässt das International Institute of Political Murder, das schon 2009/10 mit „Die letzten Tage der Ceausescus“ europaweit für Furore gesorgt hat, den Hass-Sender als Reenactment noch einmal auf Sendung gehen. Anderthalb Jahre hat Regisseur Milo Rau recherchiert, hat Interviews mit Spezialisten und Überlebenden des Genozids, mit ehemaligen RTLM-Moderatoren und Journalisten geführt, die Archive des Internationalen Strafgerichtshofs in Arusha ausgewertet, vor Ort nachgeforscht, die Erinnerungs- und Erklärungsliteratur zum Völkermord durchforstet.

Die einstündige Radiosendung, die im November 2011 erstmals Kunsthaus Bregenz zu sehen war und seitdem von der Kritik wegen ihres überzeugenden Zugriffs auf die grausamen Ereignisse gefeiert wird, hat es so nie gegeben. Im originalgetreu nachgebauten Studio ist eine Montage aus tausenden Sendestunden, Pamphleten, Erinnerungen und dialogisierten Aussagen zu hören: eine künstlerische Wahrheit einer unfassbaren historischen Unwirklichkeit, die das rassistische Laboratorium RTLM und die systematische Entmenschlichung im populären Unterhaltungsprogramm fühl- und erfahrbar machen soll.

Nicht zuletzt, weil auf der Bühne nicht die Täter, sondern die Überlebenden sitzen. Und auf den Glaskasten des Studios die Gesichter und Erzählungen der Zeitzeugen projiziert werden. Beklemmend und verstörend macht das Stück dabei gerade die Überschneidung von Realem und Theater. Denn das Böse zeigt sich hier nicht als Banales, sondern als Spektakel, als gut gelaunter Lifestyle. Und plötzlich schnürt einem bei Nirvanas „Rape me“ das Unbehagen den Hals zu.

■ Do, 4. 10. bis So, 7. 10., je 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20