Die Fahrt der Alkonauten

Zaza Burchuladze ist Schriftsteller aus Georgien. Er liest viel und sammelt Drinks, die in fiktionalen Werken vorkommen. So entstand eine volltrunkene Literaturgeschichte

Manche, die schreiben, trinken dazu. Andere sammeln Drinks, die in Büchern getrunken werden Foto: picture alliance

Von Zaza Burchuladze

Seit langer Zeit schon sammle ich „literarische Drinks“. Alle Getränke, auf die ich in Texten stoße, schreibe ich in mein Notizbuch. Dabei geht es mir in erster Linie um die Drinks – und nicht um die, die sie trinken. Ins Notizbuch gelangen also Hauptfiguren genau wie völlig unwichtige Nebenfiguren. Als Sammler sammele ich sie unbesehen, dem Ganzen liegt keine Logik zugrunde. Oder halt die Logik, der das Sammeln von Briefmarken, Münzen, Streichholzschachteln, Kühlschrankmagneten folgt.

In meinem Notizbuch steht: Goethes Mephisto trinkt Tokajerwein, Flauberts Madame Bovary Curaçao, Eisenherz in Marquis de Sades „Justine“ mag Urin und Tom Smart in „Die Pickwickier“ von Charles Dickens trinkt so viele Gläser Punsch, dass er sich die ganze Nacht mit einem Stuhl unterhält. In Texten der Antike geht es aus offensichtlichen Gründen die meiste Zeit um das Trinken von Wein, Gift und Blut. Aber auch die Ausnahmen lassen sich bis zu den Ursprüngen der Literatur zurückverfolgen. Im „Satyricon von Petronius Arbiter zum Beispiel, wo Askyltos Satyrion trinkt (ein Trunk aus dem Stendelwurz, er galt als starkes Aphrodisiakum). Und in „Der goldene Esel“ von Apuleius wird ein Junge dazu verleitet, Alraune zu trinken (der Saft aus der Wurzel der Alraune wurde als Schmerz- und Schlafmittel verwendet).

Als ich vor einiger Zeit eine Runde um den Block ging, kam ich an Schule Nr. 50 vorbei, wo ich vor langer Zeit Schüler war. Blitzartig kam mir die Erinnerung an Früchtekompott, diese gelbbraune oder eher urin­farbene Flüssigkeit, weder kalt noch heiß, immer irgendwie kränklich lauwarm und wässrig und sowieso nie süß genug. In ihr schwammen Stücke kaum erkennbarer Früchte, deren dünne durchsichtige Haut sich widerlich an die Mundschleimhaut heftete.

Diese kleine Erinnerung löste eine ganze Kette von Assoziationen aus. Der Gedanke ans Kompott machte mich durstig, der Durst ließ mich an meine Schulzeit denken, die Schulzeit rief mir die Argonautensage ins Gedächtnis, mit der Sage verband ich meine literarische Sammlung von Drinks usw. Ich entschloss mich, ein Schema anzulegen auf der Grundlage dieser sentimentalen Erinnerungen: 50 Autoren, 50 Werke, 50 Figuren, 50 Drinks. Nur aus dem 20. Jahrhundert. Die Schule, das Kompott und ich selbst gehören, und dabei wollen wir es belassen, klar ins 20. Jahrhundert.

Am wichtigsten ist allerdings, dass das Schema nur Drinks aus fiktionalen Texten enthält. Zur Erklärung ein Vergleich: Sowohl in „Strahlungen von Ernst Jünger als auch in „Der Golem von Gustav Meyrink wird Grog getrunken. Ich mag Jüngers Tagebuch deutlich lieber als Meyrinks Roman, es erfüllt aber nun mal nicht die Kriterien. Wenn nichtfiktionale Texte erlaubt wären, würde ich Witold Gombrowiczs „Tagebücher mindestens der Hälfte der aufgenommenen Texte vorziehen. Und noch etwas: Es gibt einen englischen Autor namens Will Self, in dessen Kurzgeschichte „Cock and Bull eine Figur Retsina trinkt. Retsina scheint ein so seltenes Getränk, dass ich in keinem anderen Buch darauf gestoßen bin. Andererseits ist „Cock and Bull so unfassbar schlecht, dass ich mich dann doch geweigert habe, Retsina in mein Schema aufzunehmen.

Ich bedaure natürlich auch, dass einige meiner Lieblingsautoren rausfallen mussten, weil sie nicht aus dem 20. Jahrhundert sind, denn, vorsichtig gesagt: Was kommt auch nur entfernt an die Karnevalsfeste in „Gargantua und Pantagruel“ oder den heftigen Alkoholmissbrauch bei Dostojewski ran? Zu erwähnen wäre auch „Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew, wo der Erzähler derart viele verschiedene Drinks zu sich nimmt, dass das Buch eigentlich ein eigenes Schema bräuchte. Wenngleich das Geschlechterverhältnis des Schemas mit nur einer Frau etwas unausgeglichen ist, kann Sylvia Plath es mit ihrem einzigen Roman, „Die Glasglocke“, doch locker mit 50 Prozent der verzeichneten Männer aufnehmen.

1. Abe, Kōbō · Die Frau in den Dünen · Jumpei · Wasser · 2. Bataille, Georges · Die Geschichte des Auges · Don Aminado · Urin · 3. Barth, John · Tage ohne Wetter · Horner · Muskateller · 4. Beckett, Samuel · Molloy · Molloy · Gift · 5. Bulgakow, Michail · Der Meister und Margarita · Behemoth · Kerosin · 6. Burgess, Anthony · Uhrwerk Orange · Alex · Milch · 7. Camus, Albert · Der Fremde · Meursault · Kaffee · 8. Céline, Louis-Ferdinand · Reise ans Ende der Nacht · Bardamu · Wermut · 9. Chabon, Michael · Wonder Boys · Albert · Bourbon · 10. Cortázar, Julio · Rayuela · Oliveira · Mate · 11. Dowlatow, Sergei · Das Reservat · Smirnow · Chartreuse · 12. Eco, Umberto · Das Foucaultsche Pendel · Casaubon · Bier · 13. Ellis, Bret Easton · Glamorama · Victor · Café Latte · 14. Faulkner, William · Schall und Wahn · Benjamin · Cola · 15. Fowles, John · Der Magus · Urfe · Ouzo · 16. Franzen, Jonathan · Die Korrekturen · Gary · Armagnac · 17. Frisch, Max · Mein Name sei Gantenbein · Enderlin · Grappa · 18. García Márquez, Gabriel · Der Herbst des Patriarchen · Aldous · Chicha · 19. Genet, Jean · Notre-Dame-des-Fleurs · Divine · Tee · 20. Gide, André · Die Falschmünzer · Lilian · Tokajer · 21. Grass, Günter · Die Blechtrommel · Bebra · Calvados · 22. Hašek, Jaroslav· Der brave Soldat Schwejk· Gefangener · Tinte · 23. Hesse, Hermann · Narziß und Goldmund · Konrad · Apfelmost · 24. Huxley, Aldous · Schöne neue Welt · Lenina · Soma · 25. Joyce, James · Ulysses · Bloom · Kakao · 26. Kafka, Franz · Das Schloss · K. · Cognac · 27. Kundera, Milan · Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins · Tomas · Sliwowitz · 28. Llosa, Mario Vargas · Tante Julia und der Kunstschreiber · Martin · Pisco · 29. Mann, Thomas · Der Zauberberg · Joachim · Naturlimonade · 30. Miller, Henry · Wendekreis des Krebses · Carl · Pernod · 31. Maugham, W. Somerset · Silbermond und Kupfermünze · Strickland · Absinth · 32. Meyrink, Gustav · Der Golem · Zwack · Grog · 33. Musil, Robert · Der Mann ohne Eigenschaften · Soliman · Wein · 34. Nabokov, Vladimir · Lolita · Humbert Humbert · Gin mit Ananassaft · 35. O’Brian, Flann · Auf Schwimmen-zwei-Vögel · Brinsley · Porter · 36. Ōe, Kenzaburō · Der stumme Schrei · Takashi · Wodka · 37. Orwell, George · 1984 · Winston · Gin · 38. Pamuk, Orhan · Das schwarze Buch · Galip · Rakı · 39. Pelewin, Wiktor · Buddhas kleiner Finger · Pjotr · Selbstgebrannter · 40. Pepperstein, Pawel / Anufriew, Sergej · Die mythologische Liebe der Kasten · Kaschenko · Kissel · 41. Plath, Sylvia · Die Glasglocke · Esther · Brühe · 42. Proust, Marcel · Auf der Suche nach der verlorenen Zeit · Prince von Agrigent · Orangeade · 43. Pynchon, Thomas · Die Versteigerung von No. 49 · Oedipa · Tequila 44. Rushdie, Salman · Des Mauren letzter Seufzer · Oliver · Portwein · 45. Salinger, J. D. · Der Fänger im Roggen · Caulfield · Whisky · 46. Thompson, Hunter S. · Angst und Schrecken in Las Vegas · Dr. Gonzo · Rum · 47. Wilder, Thornton · Die Kabala · Marcantonio · Marsala · 48. Updike, John · Die Hexen von Eastwick · Sukie · Chablis · 49. Vian, Boris · Der Schaum der Tage · Colin · Sauternes · 50. Jerofejew, Wenedikt · Die Reise nach Petuschki · Wenja · Cocktail

Sollte mein Text nun auch nur einen einzigen Menschen durstig oder hungrig auf das Lesen gemacht haben, hat mein Schema seinen Zweck bereits erfüllt. Falls nicht, könnte es wenigstens für ein Kreuzworträtsel benutzt werden. Eine Frage könnte lauten: Was trinkt Wronski in „Anna Karenina“?*

Übersetzung aus dem Englischen: Cornelius Reiber

Zaza Burchuladze, 45, wurde in Tiflis geboren und ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Georgiens, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018. Im September ist sein Roman „Der aufblasbare Engel“ bei Blumenbar erschienen.

*Sherry